Luftkrieg
Szenenbild aus Sergei Loznitsas

Sergei Loznitsa [Interview]

Sergei Loznitsa ist ein ukrainischer Regisseur und Drehbuchautor, der international wegen seiner zahlreichen Dokumentar- und Spielfilme bekannt ist. Seine Arbeiten behandeln oft die Geschichte Russlands, aber auch die Gegenwart, was man vor allem an Arbeiten wie der Dokumentation Maidan (2014) oder Babyn.Jar Kontext (2021) sieht. Dies gilt auch für Spielfilme wie Die Sanfte (2017) und Donbass (2018).

Für seine Arbeiten wurde er mit zahlreichen internationalen Preisen ausgezeichnet, wie beispielsweise mit der Auszeichnung für die Beste Regie bei den Filmfestspielen in Cannes für Donbass, dem Buzz Wilson Preis für Austerlitz oder dem Großen Preis des Tallinn Black Nights Film Festival für Mein Glück.

Am 16. März 2023 startet mit Luftkrieg – Die Naturgeschichte der Zerstörung eine neue Dokumentation Sergei Loznitsa in den deutschen Kinos. Wie schon Austerlitz basiert auch diese Arbeit auf einer Schrift des Autors W.G. Sebald, in diesem Falle Luftkrieg und Literatur, in dem er die Frage nach dem Umgang mit dem Flächenbombardement der deutschen Zivilbevölkerung im Zeiten Weltkrieg in der Literatur stellt.

Anlässlich des kommenden Kinostarts spricht Loznitsa im Interview über seine Herangehensweise an diese Dokumentation, die Kooperation mit Komponist Christian Verbeek und seine Forderung nach mehr Mut an Regisseure von heute.

 

In Austerlitz beziehen Sie sich bereits auf eine Arbeit W.G. Sebalds. Was war es an Luftkrieg und Literatur, was Sie für diese neue Dokumentation inspirierte?

Die bis heute unbeantwortete Frage, die Sebald in seinem Essay stellt, finde ich sehr relevant und wichtig. Er fragt sich, ob es im Kontext eines Krieges legitim ist, die Zivilbevölkerung, wie beim Flächenbombardement im Zweiten Weltkrieg geschehen, zu involvieren.

In Luftkrieg – Die Naturgeschichte der Zerstörung verbinden Sie Archivaufnahmen mit Musik, unterlegen dies aber nicht mit einem erklärenden oder ergänzenden Kommentar. Wie kamen Sie auf diese Herangehensweise oder wann stand diese für Sie fest?

Wenn man sich dem Thema des totalen Krieges und der massiven Zerstörung, die dieser mit sich bringt, widmet, muss man sich von dem historischen Narrativ distanzieren. Das Thema an sich muss von dem historischen Kontext getrennt werden. Innerhalb dieses Narrativs geht es immer um einen Kausalzusammenhang, also dass ein Ereignis ein anderes auslöste. Darüber hinaus definiert es einen Aggressor, der zuerst angegriffen hat, was die Reaktion oder die Revanche, wenn man diesen Begriff bevorzugt, in einem anderen Licht erscheinen lässt. Es geht um Verantwortung und die Legitimation für einen Angriff, was uns zu nichts führt. Die Idee, die Zivilbevölkerung in den Krieg als ein Ziel zu involvieren, wurde eingeführt im Ersten Weltkrieg, wurde jedoch im Zweiten wieder aufgegriffen. Hierbei wurde das von mir erwähnte Narrativ als Legitimation verwendet, was man auch an den Aussagen der Politiker und Militärangehörigen in Luftkrieg sehen kann.

Wenn ich diese fatale Kausalität des historischen Narrativs durchbrechen will, muss ich also einen anderen Ansatz wählen. In Luftkrieg sieht man das Bild Deutschlands vor und von dem Land nach dem Krieg, was den visuellen Rahmen des Filmes stellt. Während die erste Episode der Dokumentation Bilder der Zeit vor dem Krieg zeigt, wie man sie bestimmt schon einmal gesehen hat, bildet die zweite Episode einen Kontrast, der dystopisch und abstrakt ist. Man weiß als Zuschauer eigentlich gar nicht, wo man sich befindet, wenn diese Episode beginnt. Schließlich findet man heraus, dass es die Perspektive eines Bomberpiloten ist, der bei Nacht seine tödliche Fracht über einer deutschen Stadt abwirft. Das Material für diesen Teil der Dokumentation kommt aus verschiedenen Filmen, wobei die Bombardierung unterschiedlicher deutscher Städte im Zeiten Weltkrieg gezeigt wird zu unterschiedlichen Zeiten. Meine Intention war es, dass der Zuschauer den Schrecken der Situation spürt, trotz der abstrakten Herangehensweise. Niemand weiß genau, was passiert, aber man ahnt es und diese Gewissheit ist schrecklich.

Aus historischer Sicht ist das eine sehr abstrakte und vielleicht sogar problematische Herangehensweise, weil sie sich nicht auf ein bestimmtes Ereignis bezieht. Das Ereignis tritt in Luftkrieg in den Hintergrund, denn es geht vielmehr um eine Phänomen oder ein Konzept, was man nur so darstellen kann.

In der dritten Episode geht es dann um die Ergebnisse des Bombardements sowie die Industrie in Deutschland sowie Großbritannien, welche die Mittel herstellte, mit denen diese Zerstörung erst möglich gemacht wurde. Dieser Aspekt wird in der Diskussion um diese Themen oft vergessen, weil hierbei der Fokus mehr auf den moralischen Gesichtspunkten liegt. Wenn eine Nation eine gut funktionierende Kriegsindustrie aufgebaut hat, welche es im großen Stil möglich macht, Kriegsgerätschaften und produzieren, wird diese gewissermaßen zu einer Geisel dieser Produkte, weil man sich verpflichtet fühlt, sie einzusetzen. Am Ende sehen wir das Resultat einer solchen Verpflichtung in der Zerstörung von Städten wie Dresden.

Zu Beginn dieses Prozesses steht die Absicht, den Feind wirtschaftlich zu zerstören, indem man Fabriken oder andere Produktionsstätten bombardiert. Auch militärische Ziele spielen natürlich eine Rolle. Letztendlich folgt jedoch die völlig sinnlose Zerstörung von allem und jedem.

In diesem Zusammenhang spielt die Filmmusik Christian Verbeeks eine große Rolle für die Komposition des Filmes und dessen Wirkung. Wie war die Zusammenarbeit mit ihm?

Für Luftkrieg habe ich das erste Mal mit einem Komponisten zusammengearbeitet. Im Vorfeld haben Christian und ich uns über die Themen und die Intention des Filmes unterhalten, was uns dann zu den Instrumenten führte, die wir einsetzen wollte. Mein Gedanke war es, als Grundton für Luftkrieg den Ton eines Bombers zu nehmen und damit ein Instrument, welches diesen Klang imitieren, diesen abstrahieren und erweitern konnte. Daraus entstand die Idee, ein Cello-Oktett zu nutzen.

Ursprünglich hatte ich vor, nur in der dritten Episode der Dokumentation Musik zu nutzen. Als ich mit dem Schnitt dieses Teils fertig war, schickte ich ihn Christian, der mir dann die fertige Musik dazu gab. Allerdings hatte er noch sehr viel mehr aufgenommen und komponiert, nicht nur neue Tracks, sondern auch Variationen von existierenden. Daraufhin änderte ich meinen Plan und nutzte die von ihm aufgenommene Musik in allen Teilen des Films, was meiner Meinung nach eine gute Entscheidung war.

Die Musik in Luftkrieg ist für mich die Perspektive eines Fremden, der mit einer gewissen Distanz die Ereignisse betrachtet. In meinen Augen positioniert sich die Musik zu dem Gesehenen und spielt vor allem in der zweiten Episode eine wichtige Rolle, weil dort auf einmal ein Wechsel stattfindet. Für den Zuschauer geht es in diesem Teil nicht mehr nur um das Gesehene, sondern auch um diese Präsenz und die mit ihr verbundene Haltung.

In der Neuausgabe von Luftkrieg und Literatur gibt es eine Vorbemerkung des Autors Alfred Andersch, der in Zusammenhang mit dem Umgang des Flächenbombardements in der deutschen Gesellschaft und Kultur von einer Geschichtsblindheit sowie Traditionslosigkeit spricht. Was halten Sie von dieser Behauptung?

Dem stimme ich zu. Als wir nach finanzieller Unterstützung für unser Projekt suchten, haben wir sehr oft von Produzenten den Satz gehört, dass zu diesem Thema doch nunmehr alles gesagt sei. Man fragte uns, was man als Zuschauer aus einem solchen Film denn noch mitnehmen könne. Hier sehen wir abermals das schon angesprochene Narrativ, nach dem die Deutschen die Aggressoren waren und dies das Flächenbombardement legitimiere. Da dieser Standpunkt nach wie vor den Diskurs, national wie international, über dieses Ereignis dominiert, habe ich mich entschlossen, Luftkrieg zu machen. Ich kann diesem Standpunkt nämlich nicht zustimmen.

Verstehen Sie mich nicht falsch, es geht hier nicht um Schuld. Dass die Deutschen Schuld hatten oder haben, stelle ich nicht in Frage, aber ich zweifle an der Legitimation der Bestrafung und ob diese in diesem Ausmaß überhaupt existieren und akzeptiert werden sollte.

Sie haben einmal in einem anderen Interview gefordert, dass Filmschaffende mutig und wild sein sollten. Gib es jemanden in der internationalen Filmlandschaft, der Ihrer Meinung nach diese Forderung erfüllt, speziell vor dem Hintergrund der Darstellung des Zweiten Weltkriegs oder der Themen, von denen Sebald in seinem Essay spricht?

Natürlich gibt es welche, aber es sind nur wenige. Spontan würde mir jemand wie Radu Jude einfallen. Bei Aufführungen eines Films „Mir ist es egal, wenn wir als Barbaren in die Geschichte eingehen.“ haben bei der Szene, in der es um die Erschießung der Juden ging, viele Zuschauer den Saal verlassen. Ich erinnere mich auch an den Eklat, den Carlos Reygadas mit seinen Filmen Japon und Battle in Heaven auslöste. Und natürlich darf man Lars von Trier nicht vergessen, der mit seinen Arbeiten immer wieder Zuschauer wie auch Kritiker provoziert. Unter den zeitgenössischen Regisseuren würde ich noch jemanden wie Carlos Serra mit in diese Liste aufnehmen, dessen Pacifiction ich sensationell und sehr mutig fand.

Wenn es um die aktuelle Situation geht, scheint der Mainstream, nicht nur in der Filmlandschaft, auf einem anderen Planeten zu leben. Niemand greift den Ukrainekrieg auf oder traut sich an dieses Thema heran, und die Filme auf der Berlinale sind alles Beispiele hierfür. Oder haben Sie eine Produktion gesehen, die das Thema aufgreift?

Spontan würde mir nur die Dokumentation Iron Butterflies einfallen.

Die stammt aber von einem ukrainischen Regisseur. Dass ein Filmemacher aus diesem Land das Thema aufgreift, wundert mich nicht, schließlich umgibt es ihn und er kann sich ihm nicht entziehen. Andere Kulturschaffende halten sich jedoch von dem Thema fern, als ob es sie nichts angehen würde. Das ist eine interessante Widerspiegelung der öffentlichen Meinung und der Politik zum Ukrainekrieg, die diesen Konflikt genauso behandelt.

Man stelle sich nur einmal vor, wie mutig und aktuell ein Film über die Angehörigen der Opfer des Krieges wäre, die damit leben müssen, dass die Täter wahrscheinlich nie identifiziert werden. Oder einen Film über die UN, eine Organisation, die keinen Einfluss hat und keine Entscheidungen fällt. Wir stehen vor einem historischen Ereignis, dessen volles Ausmaß uns noch nicht einmal im Ansatz bewusst ist, doch wenn man sich die Filmlandschaft ansieht, wirkt es so, als ob sich niemand Gedanken oder Sorgen über diesen Umstand machen würde.

Besorgniserregend finde ich es, wenn Kulturschaffende der Meinung sind, man könne oder sollte zu einer Einigung mit Putin kommen. Dem liegt doch ein Missverständnis der aktuellen Weltlage zugrunde.

Vielen Dank für das Gespräch.



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