„To understand the Boris Becker story, it’s sometimes easier to move back and forth in time.“
Ungefähr 34 Minuten dauert es, bis Drehbuchautor und Regisseur Alex Gibney (Innocence Project – Gerechtigkeit für Justitia) diesen Satz sagt. Er nimmt dadurch also in Kauf, dass der Zuschauer sich während mehr als einem Drittel der ersten von zwei Episoden fragt, warum hier dauernd in der Zeit hin und hergesprungen wird. Boom! Boom! The World vs Boris Becker startet in der Gegenwart (aus der Sicht der Doku also im April 2022) mit dem vorläufigen Ende des damaligen Tennisstars – zwei Tage vor der Urteilsverkündung. Kurz darauf feiern wir seinen Wimbledon-Sieg 1985, um nach einem Ausflug ins Jahr 2019 weiter in die Vergangenheit zu reisen und den sechsjährigen Boris als frischgekürten Tennisturnierchampion zu erleben. Auch der weitere Verlauf ist nicht geradlinig. Das kombiniert mit dem Fakt, dass dem Zuschauer erst nach einer ganzen Weile offenbart wird, warum das so ist, wirkt im ersten Moment nicht nach guter Filmemache. Nun ist Gibney ja aber kein dahergelaufener Feld-, Wald- und Wiesendokumentarfilmer, sondern ein Oscar-Gewinner, der normalerweise ganz genau weiß, was er tut. Hier kann die Entscheidung bezüglich der Erzählweise allerdings nicht so ganz nachvollzogen werden, zumal der gegebene Grund aus dem Zitat offen gesagt nicht sonderlich überzeugend ist. Als Einstiegsepisode einer mehrteiligen Serie wäre diese Art sicher sinnvoll, bei gerade einmal zwei Folgen aber eben eher nicht.
Es ist nicht die einzige handwerklich fragwürdige Entscheidung. Gegen Ende der ersten Episode, als Becker über seinen Schlaftablettenkonsum redet, „unterbricht“ Gibney ihn im Voiceover (das Bildmaterial mit dem sprechenden Interviewten läuft dabei weiter), übertönt die eigentliche Antwort und wundert sich über die eben getätigte Aussage, da sie in Widerspruch zu der Aussage sowohl in Beckers Buch als auch von seiner ehemaligen Ehefrau Barbara Becker steht. Einen Interviewten, insbesondere wenn es sich dabei um den Protagonisten handelt, zu konfrontieren, wenn Ungereimtheiten in seinen Äußerungen auftreten, ist zwar ungewöhnlich, kommt aber durchaus vor (zum Beispiel in Untold: Operation Flagrant Foul). Das allerdings „hinter dem Rücken“ des Befragten, im Voiceover also, zu tun, ist nach bestem Wissen des Rezensenten ohne Präzedenzfall. Fairerweise scheint Becker der Einwand aber auch bei ausgeschalteter Kamera vorgetragen worden zu sein, denn er scheint kurz danach darauf einzugehen – was nur wieder die Frage aufwirft, wieso der Umweg übers Voiceover gegangen wurde.
Exzellent recherchiertes Archivmaterial
Formal sind das aber die zwei größten Kritikpunkte. Dass Gibney Zeit in sein Werk gesteckt hat, wird deutlich. Es ist nicht das erste Mal, dass Becker auf irgendeine Art und Weise mit dem Medium Film in Berührung kommt. 2002 absolvierte er einen Gastauftritt in der Komödie 666 – Traue keinem, mit dem du schläfst!. 2005 lieh er dem Sportlehrer im Animationsfilm Himmel und Huhn seine Stimme. Der relativ unbeachtet gebliebene Fernsehfilm Der Rebell – Von Leimen nach Wimbledon widmete sich 2021 seiner Karriere. Boom! Boom! The World vs Boris Becker hat natürlich deutlich mehr Zeit, sich der Tennislegende richtig zu widmen. Auch wenn selbst die insgesamt knapp vier Stunden nicht ausreichen, alles abzudecken, ist es doch ein recht umfassendes Portrait geworden, das sowohl den Tennisspieler als auch den Menschen Boris Becker zeigt. Die Dokureihe ist vollgestopft mit exzellent recherchiertem Archivmaterial. Nicht nur die Tennismatches, unter anderem das legendäre „Husten-Duell“, werden hier gezeigt, die wohl noch relativ leicht zu besorgen sind. Darüber hinaus werden auch teilweise obskure Interviewaufnahmen präsentiert, für die schon recht tief in den Archiven gewühlt worden sein muss.
Alle Tennisfans sollten jetzt lieber wegschauen: Tennis ist eigentlich ein recht langweiliger Sport, zumindest aus Zuschauerperspektive und zumindest in seiner Gesamtheit. Selbst zu spielen ist natürlich etwas ganz anderes, ebenso wie highlightwürdige Ballwechsel. Auch Gibney scheint zu wissen, dass die entsprechenden Szenen irgendwie aufgepeppt werden müssen. Der Aufschlag wird in der ersten Episode oft als klar nachbearbeiteter Moment nachgestellt, in welchem die Kamera den Ball von unten betrachtet, bevor fließend wieder zum originalen Archivmaterial umgeschnitten wird. Der eigentliche Kniff ist aber der Einsatz bestimmter Musik. Die Matches werden gleichsam zu Italowestern, wenn bekannte, von Ennio Morricone komponierte Melodien die Spieler auf dem Platz in den Stand zweier Duellisten erhebt.
Viel Prominenz vor der Kamera
Boris Becker ist natürlich nicht die einzige Tennislegende. Genau so ist er nicht der einzige, der in Boom! Boom! The World vs. Boris Becker zu Wort kommt. Abgesehen von der erwähnten Barbara konnte das Who is Who des Sports zu Beckers Ära für Kommentare gewonnen werden. Neben John McEnroe, Björn Borg und Mats Wilander spricht auch Erzrivale Michael Stich für die Kamera, ebenso wie Beckers damaliger Trainer Ion Țiriac. Novak Djokovic, der von Becker trainiert wurde, steht ebenfalls für ein Interview zur Verfügung.
Vor allem im Westen scheint es den Leuten schwer zu fallen, dem Personenkult zu entsagen. Öffentliche Persönlichkeit und Privatperson sind für viele schwer zu trennen. Da wird dann gerne idealisiert oder dämonisiert, je nachdem was die Medien gerade so von sich geben. Niemand vollbringt großartige Leistungen, schon gar nicht in jungen Jahren, wenn er das ist, was gemeinhin ein normaler Mensch genannt wird. Mit 17 Jahren wurde Boris Becker Wimbledon-Sieger, bis heute der jüngste. Noch bevor er 19 Jahre alt wurde, gewann er innerhalb von zwei Wochen drei Tennisturniere – auf drei verschiedenen Kontinenten. Die junge Psyche ist oft nicht in der Lage, mit nie dagewesenem Erfolg umzugehen. Das kann die legalen Fehltritte in keiner Weise entschuldigen, alles was der Privatperson Becker rechtlich widerfahren ist, war vollkommen angebracht. Es zeigt aber wieder einmal auf, wie wichtig ein leitender Einfluss vor allem auf junge Männer ist.
OT: „Boom! Boom! The World vs. Boris Becker“
Land: USA
Jahr: 2023
Regie: Alex Gibney
Drehbuch: Alex Gibney
Musik: Eric V. Hachikian, Peter Nashel
Kamera: Ben Bloodwell, Mark Garrett, Chris Openshaw
Mitwirkende: Boris Becker, Ion Țiriac, John McEnroe, Novak Djokovic, Björn Borg, Mats Wilander, Barbara Becker, Lilian de Carvalho Monteiro
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