April 1945: Die Tür des vollgepferchten Güterwaggons geht auf, den Überlebenden der Todesfahrt bietet sich ein absurder Kontrast: sattes Grün, liebliche Hügel, in der Ferne ein kleines Dorf. Ungläubig stolpert die Jüdin Simone (Hanna van Vliet) ins Freie. Träumt sie, sieht so vielleicht das Paradies im Jenseits aus? Ihr starrer Blick ist gezeichnet vor allem vom Hunger, den die Gefangenen auf ihrer zweiwöchigen Irrfahrt erleiden mussten. „Essen“ ist das einzige Wort, das sie über die Lippen bringt, als russische Soldaten sich nähern, unter ihnen die Scharfschützin Vera (Eugénie Anselin). Aber die Uniformierten haben auch keine Vorräte mehr. Also beschließen sie, mit den Überlebenden ins Dorf zu gehen, Geschäfte, Wohnungen und Lebensmittel zu konfiszieren und sie an die befreiten Juden zu verteilen. Dabei erschießen sie eine sich wehrende Metzgersfrau. Ihre Tochter, die 17-jährige Winnie (Anna Bachmann), muss das mit ansehen.
Kampf ums Überleben
Vom Grauen der Nazi-Herrschaft ist oft erzählt worden. Nicht so häufig im Kino zu sehen sind jedoch die Wirren des gesetzlosen Zustandes, als die Nazis das Weite suchten, aber der Krieg offiziell noch nicht beendet war. Für den Hoffnungsschimmer der Frauensolidarität und die eigentlich völlig unwahrscheinlichen Gesten der Menschlichkeit im Kampf ums nackte Überleben interessiert sich die niederländische Regisseurin Saskia Diesing. Ihre Geschichte von einem jüdischen Häftlingstransport, der in der Nähe eines brandenburgischen Dorfes strandet, stellt den Pragmatismus weiblichen Überlebenswillens in den Mittelpunkt.
Was es genau mit dem Zug auf sich hat, der aus dem Konzentrationslager Bergen-Belsen kam, erklärt der Film knapp und anschaulich im Vorspann, mit animierten Karten und einer weiblichen Stimme aus dem Off. Man kann über den „Verlorenen Zug“ auch auf Wikipedia nachlesen. Tut man das, stellt man schnell fest, dass alle Fakten und Hintergründe des Films exakt stimmen, auch die Typhus-Epidemie, die sich im Zug ausgebreitet hat und die nun auch auf das Dorf übergreift, weil der Penicillin-Nachschub der Roten Armee wegen gesprengter Brücken nicht vorwärts kommt. Saskia Diesing, die in Deutschland geboren wurde und seit ihrem 8. Lebensjahr in den Niederlanden lebt, hat einen persönlichen Bezug zu der ungewöhnlichen und wenig bekannten Geschichte. Einer ihrer Onkel hat als Baby die Irrfahrt und die Typhus-Gefahr überlebt.
Frei erfunden sind jedoch die drei Heldinnen, die einander zu Beginn misstrauisch beäugen. Die 29-jährige Holländerin Simone will vor allem ihren kranken Geliebten Isaac (Bram Suijker) retten und vor den Russen verstecken, die ihn ins katastrophal ausgestattete Feldlazarett bringen würden. Die glühende Hitler-Verehrerin Winnie hasst die Juden und die Russen noch viel mehr. Und die 21-jährige Rotarmistin Vera wiederum verachtet die Deutschen, schützt deren Frauen jedoch vor Vergewaltigung. Die latente Feindseligkeit und allseitige Gefahr erinnern an Cate Shortlands Film Lore (2012) mit seinen durch Deutschland irrenden Kindern, ebenfalls kurz vor Kriegsende.
Anarchischer Zwischenzustand
Es liegt eine nervenzerreißende Spannung in den oft ruhigen Bildern von Kameramann Aage Hollander. Alles kann passieren in diesem anarchischen Zwischenzustand, der sich verschärft, als die Russen das Dorf absperren und unter Quarantäne stellen müssen. Überleben ist Glücksache, Rache liegt in der Luft. Sie wäre nur allzu verständlich. Aber es schleicht sich auch Hoffnung in die einfühlsamen Großaufnahmen und schnörkellosen Einstellungen ein. Regisseurin Saskia Diesing (Nena, 2014) bevorzugt die kleinen Gesten, um vom langsamen Keimen weiblicher Solidarität zu erzählen: ein verständnisvoller Blick, ein Glas Wodka am Wohnzimmertisch, das Nähen eines Kleides. Der Film nimmt sich Zeit für die unwahrscheinliche Annäherung. Er konzentriert sich auf pragmatische Klugheit inmitten heilloser Zerstörung. Ganz beiläufig richtet er den Blick auf das, was Frauen besser können als Männer: sich einfühlen, jemanden pflegen, ein Stück Normalität herstellen.
Der verlorene Zug packt seine simple Botschaft von der Kraft der Mitmenschlichkeit nicht in dick aufgetragene Parolen. Er lässt sie durchschimmern unter dem Gewebe eines geradlinig und auch ein bisschen konventionell aufgezogenen Historien-Stoffes. Das einfach Gestrickte passt aber hervorragend zu den existenziellen Themen, die das Frauendrama verwebt. Es lässt die emotionale Kraft grundlegender Wahrheiten umso deutlicher hervortreten: Aufbauen ist allemal besser als Kaputtschlagen. Es ist vermutlich kein Zufall, dass alle Diktatoren dieser Welt Männer waren und sind.
OT: „Het verloren Transport“
Land: Niederlande, Luxemburg, Deutschland
Jahr: 2022
Regie: Saskia Diesing
Drehbuch: Saskia Diesing
Musik: Paul Eisenach, Jonas Hofer
Kamera: Aage Hollander
Besetzung: Anna Bachmann, Hanna van Vliet, Eugénie Anselin, Fabienne Elaine Hollwege, Philippe Thelen
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