Emily Atef ist eine deutsch-französische Regisseurin und Drehbuchautorin. Nach ihrer Ausbildung an der Film- und Fernsehakademie Berlin drehte Atef ihren ersten Spielfilm Molly’s Way (2005) und später Das Fremde in mir (2008), die auf vielen internationalen Festivals liefen. Für diese beiden Arbeiten wurde Atef unter anderem auf dem Filmfest München mit dem Förderpreis Neues Deutsches Kino, auf dem Filmfestival Türkei/ Deutschland als Bester Film und dem São Paulo International Film Festival ausgezeichnet. Vielen Zuschauern ist Atef in erster Linie durch 3 Tage in Quiberon ein Begriff, der die Geschichte der Schauspielerin Romy Schneider erzählt und ihres letzten Interviews. Ihre aktuelle Arbeit ist die Romanverfilmung Irgendwann werden wir uns alles erzählen, nach einer Erzählung der Autorin Daniela Krien, die auf der Berlinale 2023 ihre Premiere feierte.
Anlässlich des Kinostarts von Irgendwann werden wir uns alles erzählen am 13. April 2023 spricht Emily Atef über die Dreharbeiten, das Bild vom Osten Deutschlands in ihrem Film sowie den „female gaze“ im Medium Film an sich.
Als ich Daniela Kriens Roman Irgendwann werden wir uns alles erzählen zum ersten Mal las, war ich als Cineast fasziniert von den Bildern, mit denen die Autorin arbeitet. Was hat dich an dem Roman begeistert?
Ich habe noch nie einen Roman gelesen, bei dem ich den Film gleich vor Augen hatte. Daniela Krien schreibt so kinematografisch, dass man den Sommer, die Menschen und vor allem diese ungestörte Natur sich sogleich vorstellen kann. Doch es sind nicht nur die Bilder, sondern auch die Gerüche, denn man kann den Schweiß und das Begehren, vor allem das sexuelle, förmlich riechen während des Lesens.
Zugleich hat mich diese zutiefst menschliche Perspektive beeindruckt, die nicht nach einem Schwarz-Weiß-Schema funktioniert und man beispielsweise bei der Familie sehen kann. Darüber hinaus liefert der Roman eine interessante Sicht auf das Land, besonders auf den Osten, unmittelbar nach der Wende.
Im Zentrum handelt der Roman vom Begehren einer jungen Frau, die sich damit emanzipiert oder dabei ist, dies zu tun. Maria will sich nicht länger vorschreiben lassen, wie eine Frau zu handeln oder zu begehren hat. Die Begegnung mit Henner entfacht ein Feuer in ihr, was sich nicht mehr bändigen lässt und sie dazu bewegt, ihre Grenzen auszutesten, auch wenn die Gesellschaft um sie herum ihr vorschreiben will, dass diese Verbindung nicht sein kann und darf. Sie ist sich des Risikos bewusst, dass sie sich verbrennen kann, wenn sie ihrem Begehren nachgeht, doch das hindert sie nicht, es zu versuchen.
Irgendwann werden wir uns alles erzählen handelt von einem Amour fou, einer kurzen, sehr intensiven und leidenschaftlichen Begegnung zweier Menschen, die einen tiefen Eindruck bei beiden hinterlässt.
Du hast einmal gesagt, dass dich Frauenfiguren interessieren, die keinem Klischee oder Stereotyp entsprechen. Erfüllt Maria dieses Kriterium?
Maria ist eine Figur, die vor allem das physische Begehren mag. Das sieht man schon anhand der Beziehung zu Johannes, mit dem sie auf dem Dachboden des Hauses seiner Eltern lebt. Sie genießt den Sex und die Leidenschaft, was dann ein Grund ist, warum sie sich zu Henner hingezogen fühlt.
Diese Perspektive auf eine junge Frau habe ich sehr selten in der Literatur, aber auch im Film wiedergefunden. Meistens haben wir es ja mit einer männlichen Sichtweise zu tun, innerhalb derer die Frau das Objekt der Begierde ist und entsprechend beschrieben oder inszeniert wird. Natürlich gibt es da Werke, die ich interessant und spannend finde, doch dieser Perspektivwechsel ist etwas, das mich sehr fasziniert. Ich hoffe, meine weiblichen und männlichen Zuschauer sehen das auch so.
In den Interviews zu Besprechungen, die sich zu Irgendwann werden wir uns alles erzählen gelesen habe, bemerke ich eine Tendenz, dass man die Beziehung von Henner und Maria oft im Kontext von MeToo oder Political Correctness betrachtet und bewertet. Was denkst du darüber?
Zunächst einmal muss gesagt werden, dass ich gerade wegen Bewegungen wie MeToo als Frau alles über Frauen erzählen kann. Es wäre falsch, wenn man einer Autorin wie Daniela Krien die Hand abschneiden würde oder mir den Mund verbieten würde, wenn es darum geht, weibliches Begehren zu beschreiben und zu schildern, nur weil man meint, dass eine 18-jährige Frau keinen fast 40-jährigen Mann lieben darf. Wir dürfen alles erzählen, aus allen Perspektiven, auch wenn die Hauptfigur fehlbar ist oder sich unmöglich benimmt und tötet. Auch wenn sie eine toxische Beziehung eingeht.
Vor 50 Jahren konnten meine Kolleginnen nicht darauf setzten, dass man ihnen die technischen oder finanziellen Möglichkeiten gab, um eine solche Geschichte zu erzählen. Wenn man eine eigene Kamera hatte, konnte man es versuchen, aber auf eine Kinoauswertung konnte man trotzdem nicht setzen. Dank MeToo hat sich dies endlich geändert. Diese Bewegung, die sich zunächst nur auf Einzelfälle des Machtmissbrauch bezog, hat nun Machtmissbrauch als System im Blick, was beispielsweise evident ist, wenn man eine Filmgeschichte aufschlägt und auf 100 Regisseure kommen vielleicht gerade einmal zwei Regisseurinnen. Hier wird auf ein System verwiesen, was es diesen Frauen erschwerte und unmöglich machte, ihre Stimmen zu erheben und Geschichten von anderen Perspektiven aus zu erzählen.
In Irgendwann werden wir uns alles erzählen wird vom Begehren der Hauptfigur, einer jungen Frau, gesprochen. Es ist ihr Begehren, für das sie sich entscheidet. Sie ist die Aktive und will zu ihm gehen. Davon darf ich natürlich erzählen und ich würde mir wünschen, dass wir mehr solcher Geschichten hören und sehen.
2019 hast du zusammen mit Katja Eichinger im Rahmen des Filmfest München eine Masterclass zum Thema Female Gaze gegeben. In diesem stellst du dieses Konzept als einen Kontrast zu dem Male Gaze, der im Kulturbetrieb überwiegt, vor. Siehst du dein Konzept im Jahre 2023 im Film umgesetzt?
Ich denke schon. Über Jahrhunderte haben wir immer wieder diesen „male gaze“ in der Kultur gehabt, nicht nur im Kontext des Begehrens. Ein interessantes Beispiel ist Jane Champions The Power of the Dog, ein Western, in dem die meisten Hauptfiguren männlich sind und der einen ganz anderen, interessanten Blick auf Themen wirft, die für das Genre prägend sind. Aber man muss natürlich bemerken, dass die nicht einfach nur der weibliche Blick auf eine Figur oder Thema ist, denn es ist Champions Perspektive. Eine andere Kollegin hätte sicherlich einen ganz anderen Film aus dem Material gemacht.
Neben der Perspektive auf Weiblichkeit und Begehren finde ich es mindestens genauso interessant wie Ostdeutschland in Irgendwann werden wir uns alles erzählen gezeigt wird. Gibt es ein Bild des Osten Deutschlands, dass du als Regisseurin und Zuschauerin gerne öfter sehen würdest?
In dem Roman fand ich die Familie toll und wie sie beschrieben wird. Marianne, Johannes Mutter, wird als eine Frau beschrieben, die mitten im Leben steht, die auch einmal scharfe Ansagen machen kann und – wenn sie keiner beobachtet – mit dem Siggi im Heu für ein Techtelmechtel verschwindet. Sie, wie auch der Rest der Familie, steht im Gegensatz zu dem Klischee des grauen, tristen Ostens, was man leider viel zu häufig sieht, auch in den Medien.
Ich habe nie im Osten gelebt, aber so, wie er oft dargestellt wird, habe ich ihn nie erfahren. Während meiner Ausbildung an der Deutschen Film- und Fernsehakademie Berlin hatte ich viele Kommilitonen und Kommilitoninnen, die aus dem Osten kamen, mit denen ich sehr viel Zeit verbrachte, auch außerhalb der Arbeit. Gleiches passierte bei diesem Projekt durch meine Zusammenarbeit mit Daniela Krien für das Drehbuch.
Die Familie in Irgendwann werden wir uns alles erzählen sollte so lebendig sein, so herzlich und so leidenschaftlich. Es sollte viel gelacht, gegessen und getrunken werden, aber auch einmal herzhaft gestritten, denn so sahen die Familien im Osten wie im Westen nun einmal aus. Über allem sollte das Helle und Schwüle dieses einen Sommers sein, was dem Ganzen einen Charme gibt, der vielleicht sogar etwas an Südeuropa erinnert.
Abgesehen davon soll die Geschichte natürlich nicht die Schattenseiten der Wende verleugnen. Das sehen wir an einer Figur wie Siggi, der zwar vielleicht nun mehr Land haben wird und mehr Möglichkeiten bekommt, aber für den dieser politische und ökonomische Wechsel zu schnell ging. Mit ihm sahen sich viele Ostdeutsche in einer ähnlichen Lage, als sie sich eine neue Arbeit suchen oder von Grund auf neu erfinden mussten.
In den Szenen, die am Esstisch der Familie spielen, wie auch in dem Titel, steckt eine Hoffnung, dass irgendwann einmal eine Zeit kommen wird, in der man sich alles erzählen kann, ohne Angst vor Repressalien. In Die Brüder Karamasow kommt dieser Moment erst nach dem Tod, aber meinst du, dass diese Zeit in Deutschland vielleicht schon gekommen ist?
Ich bin Optimistin und ich weiß, dass es diese Zeit geben wird. In 100 Jahren wird man hoffentlich von der Vergangenheit reden können und keine Unterscheidung mehr zwischen Ost und West machen. Natürlich hoffe ich auch, dass diese Zeit schneller kommen wird, denn der bittere Unterton, mit dem manche Ostdeutsche sich sehen oder ihre Lage, oder die Arroganz, mit der West- oder Mitteldeutsche nach Osten blicken, könnte so abgeschafft werden.
Als Berlin gebürtige Halb-Französin und Halb-Iranerin finde ich diese Unterschiede und die Haltungen sehr schade, weil es doch ein Land ist. Die Wiedervereinigung hätte diese Spaltung, die wir über 40 Jahre erfahren haben, auflösen müssen und nicht nur im Kontext des symbolischen Abschaffens einer Mauer. Ich hätte nicht gedacht, dass dieser Prozess bis heute andauern würde und anscheinend noch immer nicht abgeschlossen ist. Die Wunden sind doch tiefer, als man meinte, doch ich bleibe bei meiner Hoffnung, dass dieser Tag einmal kommen wird, an dem ein Neustart möglich sein wird und man sich alles erzählen kann.
Vielen Dank für das tolle Gespräch.
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