Als die Putzfrau Morgane Alvaro (Audrey Fleurot) während ihrer Arbeit im Polizeirevier aus Versehen eine Fallakte vom Schreibtisch fegt, verteilt sich deren Inhalt über den Boden. Nachdem sie die Fakten des untersuchten Mordes erfasst hat, korrigiert sie eine Notiz der Polizei. Am nächsten Tag lässt Kriminalkommissar Adam Karadec (Mehdi Nebbou) sie vorladen, nachdem er dank der Überwachungsbänder herausfand, wer für den Hinweis verantwortlich ist. Während er davon überzeugt ist, dass die Mutter dreier Kinder aus zwei Partnerschaften Insiderinformationen haben muss, gibt Revierleiterin Céline Hazan (Marie Dernarnaud) ihr eine Chance, bei den Ermittlungen zu helfen. Dank Morgane kann der Fall tatsächlich gelöst werden, woraufhin sie als Beraterin eingestellt wird. Ihr hoher IQ und ihr fotografisches Gedächtnis helfen beim Lösen weiterer Fälle, allerdings ist die Zusammenarbeit zwischen der chaotischen Morgane und dem pedantischen Adam zunächst alles andere als entspannt …
Ein idiotisches Genie
Es ist keine leichte Aufgabe, intelligente Charaktere zu schreiben. Der Grad der Herausforderung steigt natürlich indirekt proportional zur intellektuellen Kapazität des jeweiligen Autoren, aber auch so können sich Probleme dabei ergeben, eine clevere Figur mit Filmkonventionen in Einklang zu bringen. Wer so klug ist, dass er jedes Rätsel spielend leicht löst, ist in einem Film langweilig. Daher müssen so einem Protagonisten auch Schwächen verpasst werden, was im Falle von HIP: Ermittlerin mit Mords-IQ offensichtlich versucht wurde, aber nur bedingt gelungen ist. Das Drumherum bei Morgane ist ja ganz passabel, ihre Familiensituation zeigt beispielsweise deutlich, dass bei ihr nicht alles rund läuft.
Andere Situationen aber untergraben die Prämisse und lassen an ihrem angeblichen IQ von 160 zweifeln. Als sie in der ersten Episode nach ungefähr neun Minuten mit vollgepacktem Einkaufswagen vom Supermarkt zurückkommt, stößt sie mit den Vorderrädern an den Bordstein vor ihrem Haus und muss auf der Straße stehen bleiben, bis ihr Nachbar Henri (Rufus) ihr hilft. Diese Szene ist natürlich dazu gedacht, ihn einzuführen, aber das hätte auch auf eine Weise stattfinden können, welche die Eigenschaften der Protagonistin nicht kompromittiert. Morganes „Problem“ hat nämlich zwei so einfache Lösungen, dass es schlicht nicht glaubhaft wirkt, dass sie es nicht lösen kann. Die anstrengendere Lösung wäre, Druck auf den Griff auszuüben, um den vorderen Teil des Einkaufswagens über die nicht einmal besonders hohe Bordsteinkante anzuheben und ihn dann nach vorne zu schieben. Die bequemere und klügere Lösung wäre es, die Straße bereits an einer Stelle zu verlassen, an welcher der Bordstein auf einer Ebene mit der Fahrbahn ist.
Es gibt tatsächlich das Phänomen, dass extrem hochbegabte Menschen manchmal nicht in der Lage sind, die simple Lösung für eine banale Unannehmlichkeit zu sehen. Theoretisch ließe sich zudem argumentieren, dass Morgane vom Einkauf und ihren Kindern gestresst ist, sodass diese Situation für sie zusätzlich erschwert wird. Wie um diesen Erklärungsversuch im Keim zu ersticken, haben die Setdesigner jedoch zwei leere Einkaufswagen vor eines der Garagentore platziert. In keiner Welt ist Morgane also zum ersten Mal damit konfrontiert, den Bordstein überwinden zu müssen. Später in der Folge ist das Haus erneut von außen zu sehen, und weiterhin stehen zwei Einkaufswagen davor. Wenn Morgane den dritten zurückgebracht hat, hätte sie auch die anderen jeweils nach Gebrauch zurückbringen können, weshalb sich hier unnötigerweise ins eigene Fleisch geschnitten wurde. So ganz durchdacht ist das alles eben nicht.
Eine Außenseiterin zeigt es allen anderen
Ansonsten ist HIP: Ermittlerin mit Mords-IQ so ein bisschen eine Mischung aus The Mentalist und Monk, mit einer Prise Erin Brokovich. Die Polizisten hier sind manchmal vielleicht nur deshalb nicht in der Lage, den jeweiligen Fall zu lösen, weil das Drehbuch es verlangt, aber trotz der überlangen Auseinandersetzung mit Inkonsistenzen in Morganes Verhalten darf Folgendes nicht vergessen werden: Einer der größten Reize solcher Shows liegt darin, dass der „Außenseiter“ kompetenter ist als diejenigen, die eigentlich darauf trainiert sind, Verbrechen zu lösen. Wenn das nur dadurch erreicht werden kann, die Profis zu schwächen, dann ist das ein Preis, der gezahlt werden muss. Anders als beim oben beschriebenen Fall stimmt hier das Kosten-Nutzen-Verhältnis.
Während die anderen genannten Serien etwas mit dem Gimmick ihres Protagonisten machen, wird für Morgane zwar einiges davon in der ersten Folge etabliert, aber kaum etwas hat je wieder echte Relevanz. Dass sie die Preise als rote Zahlen über den Produkten sieht oder dass sie sehr schnell rechnen kann, fällt außer bei ihrer Einführung eigentlich kaum ins Gewicht. Auch die Handlungsbogen ihrer Kinder scheinen ein wenig zu kurz zu kommen. Zumindest die könnten in der zweiten Staffel aber noch aufgegriffen werden. Generell fühlt es sich aber beinahe überflüssig an, dass Morgane einen IQ von 160 hat. Ein gutes Gedächtnis (das aber auch Aussetzer hat, wenn das Drehbuch es verlangt) und eine schnelle Auffassungsgabe können zwar mit einem hohen IQ korrelieren, aber eine Rolle spielt er in der Serie eigentlich auch nicht.
Der Mix aus Verbrechen aufklären und privates Leben in den Griff bekommen ist aber immerhin gelungen. Vor allem dank der sympathischen Schauspieler lässt sich das hier alles schon recht leicht anschauen. Audrey Fleurot (Kämpferinnen) überzeugt als quirlige Protagonistin, die sich in bunten Outfits nur äußerst widerwillig etwas vorschreiben lässt und ihrem neuen Kollegen des Öfteren auf der Nase herumtanzt.
OT: „HPI: Haut Potentiel Intellectuel“
Land: Frankreich
Jahr: 2021
Regie: Vincent Jamain, Laurent Tuel
Drehbuch: Alice Chegaray-Breugnot, Stéphanie Carrié, Julien Anscutter, Marion Carnel, Laurent Vignong, Soiliho Bodin, Nicolas Clément
Musik: Yannis Dumoutiers
Kamera: Benjamin Louet
Besetzung: Audrey Fleurot, Mehbi Nebbou, Bruno Sanches, Marie Denarnaud, Bérangère McNeese, Cypriane Gardin, Noé Vandevoorde, Cédric Chevalme, Rufus, Clotilde Hemse, Christopger Bayemi
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