In einer kleinen Vorstadt im Jahre 1958 erlebt der zwölfjährige David (Daniel Manche) eine an sich unspektakuläre Kindheit. Die Nachbarschaft ist ruhig und die Sommerferien stehen an, mit all den Vergnügungen, die damit einhergehen. Er und seine Freunde sind dabei oft bei Ruth Chandler (Blanche Baker), eine alleinstehende Frau, die von allen nur liebevoll „Auntie Ruthie“ genannt werden will und vor allem die Jungen der Nachbarschaft wie Erwachsene behandelt. Nicht nur spricht sie Themen wie Sex oder erste Dates an, sie gibt ihnen auch Bier zu trinken und erfreut sich an ihrer Anwesenheit. Weniger erfreut hingegen ist sie über ihre beiden Nichten Meg (Blythe Auffarth) und Susan (Madeline Taylor), die nach dem Unfalltod ihrer Eltern bei Ruth leben. Bei jeder sich bietenden Gelegenheit betont sie, welche Last die beiden Mädchen für sie sind und dass sie ihr unendlich dankbar sein müssen für das Dach über ihrem Kopf und die Verpflegung, die sie ihnen zugute kommen lässt.
Insbesondere Mag ist ein beliebtes Opfer ihrer Beleidigungen und Demütigungen, die Ruth nicht etwa im Privaten durchführt, sondern vor den Augen der Nachbarsjungen. Immer wieder wendet sie sich hilfesuchend an die Jungen, vor allem an David, der seinerseits ein bisschen verliebt in seine Nachbarin ist, und ihr aufmerksam zuhört, wenn sie ihr Leid klagt, aber nicht verhindern kann, dass sich die Lage immer mehr zuspitzt. Nach einer besonders demütigenden Tat beschließt Meg, sich an die Polizei zu wenden, die auch prompt bei Ruth aufschlägt und Nachforschungen anstellt. Zwar gelingt es ihr, die Beamten zu überzeugen, dass alles mit rechten Dingen in ihrem Haus zugeht, doch eine solche Tat kann sie ihrer Nichte unter keinen Umständen verzeihen. Im Waschkeller des Hauses beginnt ein Martyrium für die 14-jährige.
Ein amerikanisches Verbrechen
Der Fall von Sylvia Likens und ihr Martyrium diente US-Autor Jack Ketchum (The Woman) als Inspiration für The Girl Next Door, der Romanvorlage zu Evil. Die Geschichte, die als Roman wie auch als Film immer wieder dem Horrorgenre zugeordnet wird, ist dabei mehr ein Drama, in dem vor allem die Perspektive beim Leser wie auch dem Zuschauer großes Unbehagen auslöst, wird man doch, ebenso wie die Nachbarsjungen, zum Zeuge der unbeschreiblichen Dinge, die ein Mensch durchstehen muss. Regisseur Gregory M. Wilson blieb der Herangehensweise des Romans treu und schuf damit einen Film, bei dem es weniger um die Taten an sich geht, sondern vielmehr um die Frage, was in uns ist, das uns so handeln lässt oder welche Faszination diese für uns haben.
Im gleichen Jahr, in dem auch Jack Ketchum’s Evil entstand, erschien mit An American Crime ein weiterer Film, der sich auf den Fall Sylvia Likens bezieht und konsequent von ähnlichen Themen geprägt ist. Was jedoch Evil als Film und Roman unterscheidet, ist die Perspektive des Nachbarsjungen, der als Erwachsener und als Teenager von dem berichtet, was er sieht, hört und tut (oder eben unterlässt zu tun). Dabei ist gerade der zeitliche Kontext der 1950er interessant, den die teils lichtdurchfluteten Bilder von Kameramann William H. Miller, die Musik Ryan Shores sowie natürlich die Kostüme und die Ausstattung hervorheben. Das Ideal von der US-amerikanischen Vorstadt, die weiß lackierten Lattenzäune sowie die Autos vor den Einfahrten suggerieren eine heile Welt, wie man sie aus unzähligen Sitcoms aus der Zeit noch kennt. Der Kontrast kommt, sobald man in die Häuser geht, also hinter die Fassade schaut und die Keller betritt, in denen sich, wie typischerweise in vielen Genreproduktionen, Unbeschreibliches abspielt. Dieser Kontrast ist in Evil nicht nur ein gestalterisches Mittel, sondern eine Spiegelung der Gefühlslage des Beobachters, der sich fragt, welche Abgründe er/sie zu verbergen hat und wie viel Dunkelheit in einem selbst schlummert.
Wahrer Schmerz
Ein Faktor, der zur Wirkung von Evil beiträgt, sind die Darsteller, allen voran Blanche Baker als Ruth und Blythe Auffarth als Meg. Selbst wenn man Auffarth das Alter ihrer Figur zu keiner Zeit abnimmt, ist ihr sensibles Spiel ein wichtiger Aspekt vieler Szenen, auch vor denen im Keller. Im Zusammenspiel mit Baker erlebt man die emotionale Manipulation, der Teenagerin wie auch der Nachbarsjungen, die ihre Lage akzeptieren müssen, einsehen müssen, dass Meg immer weniger ein Mensch ist und sich imstande fühlen, eine ganze Reihe von schrecklichen Dingen ihr anzutun, bei denen Ruth naturgemäß immer wie Initialzündung gibt. Durch das Spiel kombiniert mit der Idee der Kontraste, die im letzten Absatz erwähnt wurde, wird man als Zuschauer, ähnlich die David, aus der Starre gerissen und fragt sich, was man gerade eigentlich erlebt hat und warum man nicht eingeschritten ist. Aufgrund dieser Wirkung, die Evil entfaltet, kann man ihm auch die handwerklichen Schwächen, wie die TV-Optik, verzeihen, denn in diesen Momenten spielt er in einer Liga mit Werken wie Henry: Portrait of a Serial Killer oder Funny Games.
OT: „The Girl Next Door“
Land: USA
Jahr: 2007
Regie: Gregory M. Wilson
Drehbuch: Daniel Farrands, Philip Nutman
Musik: Ryan Shore
Kamera: William H. Miller
Besetzung: Blythe Auffarth, Blanche Baker, Daniel Manche, Madeline Taylor, Graham Patrick Martin, Benjamin Ross Kaplan, Austin Williams
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