Shirin Neshat ist eine iranische Künstlerin, Regisseurin und Fotografin. In ihren Arbeiten setzt sie sich auf unterschiedliche Weise mit ihrer Heimat, Weiblichkeit und dem Islam auseinander. Bereits ihre Fotoserie „Women of Allah“ (1993-1997) vereinte all diese Themen und zeigte die für ihre Kunst typischen Merkmale, beispielsweise der Bezug auf arabische Lyrik und Kunst. Neben der Fotografie drehte Neshat zudem Filme, welche sich thematisch ihren anderen Arbeiten anschließen und wurde zum Beispiel für ihre Kurzfilme Turbulent und Rapture auf der Biennale ausgezeichnet.
2009 legte sie mit Women Without Men ihren ersten Spielfilm, der die Geschichten mehrerer iranischer Frauen während der Zeit des Militärputsches Anfang der 1950er Jahre erzählt. Auf den Filmfestspielen in Venedig wurde sie für ihre Arbeit mit dem Regiepreis ausgezeichnet. Ihre zweite Regiearbeit, Auf der Suche nach Oum Kulthum, erzählt von einer Filmemacherin, die an einer Verfilmung des Lebens und Wirkens der ägyptischen Sängerin Oum Kulthum arbeitet und sich dabei zwischen ihrer Karriere und ihrer Familie entscheiden muss.
Ihr neustes Regiearbeit ist der Spielfilm Land of Dreams, der zum einen die für ihr Werk bekannten Themen vereint, doch zudem die Sicht einer Außenstehenden auf die Vereinigten Staaten, ihre Kultur, ihre Politik und ihre Gesellschaft zeigt. Anlässlich des Heimkinostarts am 28. April 2023 spricht Shirin Neshat im Interview über die Verbindungen der Geschichte des Films zu ihrer Biografie, die US-amerikanische Landschaft und die Protagonistin Simin, gespielt von Sheila Vand.
Land of Dreams ist, wie du oft betont hast, deine persönlichste Arbeit und enthält viel von deiner Lebensgeschichte. Wie meinst du das oder welche Teile der Biografie meinst du damit?
Meine vorherigen Arbeiten haben immer einen Bezug zum Iran gehabt, entweder aufgrund ihrer Themen oder aufgrund des Handlungsortes. Selbst, wenn sie an anderen Orten entstanden, war die Verbindung zu meiner Heimat stets sehr präsent. Land of Dreams hingegen ist meine erste Arbeit, die meine Sicht auf die USA zeigt. In Anbetracht der gesellschaftlich-politischen Lage des Landes fand ich es als wichtig, dieses Projekt jetzt zu machen.
Simin, die Protagonistin in Land of Dreams, fühlt sich als eine Fremde in diesem Land. Sie hat das Trauma ihrer Vergangenheit, die Erinnerung an die Hinrichtung ihres Vaters im Iran nicht vergessen und durchlebt sie immer wieder, während sie in den USA, ihrer neuen Heimat, Probleme hat, sich zu integrieren oder angenommen zu werden. Wie ich, steht sie zwischen zwei Kulturen, zwischen zwei „Heimaten“, denn nach der Revolution im Iran konnte ich lange Zeit nicht dorthin zurückkehren und verfolgte, wie diese zwei Kulturen in mir und in der Realität immer mehr in Konflikt gerieten.
Eine Sache, die dich anscheinend zu faszinieren scheint, ist die US-amerikanische Landschaft, wenn man sieht, wie du sie in Land of Dreams inszenierst. Was findest du als Künstlerin so attraktiv an dieser Landschaft?
Als Außenstehende habe ich einen besonderen Blick auf diese Landschaft, der bis zu einem gewissen Grade auch ein exotischer ist. Wie in Wim Wenders’ Paris, Texas ist es auch in Land of Dreams der Fall, dass ich auf Bilder wie die Wüste, die Tankstellen und die Diners nicht verzichten kann, die innerhalb der Popkultur einen ikonischen Status haben. Auf der einen Seite sind dies Bilder, die klischeehaft sind, doch andererseits sind es auch Vorstellungen, die man als Nicht-Amerikaner wie ich oder die Drehbuchautoren Jean-Claude Carrière und Shoja Azari mit diesem Land in Verbindung bringt.
Darüber hinaus ist alleine das Bild der Wüste für mich verbunden mit Erinnerungen an den Iran. Sie erinnert mich an meine Kindheit und Jugend, an öde, weite Landstriche, in denen ich aufwuchs.
In einem anderen Interview zu Land of Dreams hast du in Bezug zu dem Thema Heimat gesagt, dass eine Heimat zu verlieren gleichzusetzen sei mit dem Verlust der Eltern. Inwiefern spielt diese Idee bei Land of Dreams eine Rolle?
Das ist schwierig zu beantworten. Eine lange Zeit hatte ich das Bedürfnis, in meine Heimat zurückzukehren, in erster Linie natürlich wegen meiner Familie im Iran und ich ertappte mich dabei, wie ich auf Menschen neidisch war, die eine solche Chance erhielten, die mir verwehrt war. Mein Frust und meine Nostalgie mit dem Iran veränderte sich mit der Zeit, je länger diese Trennung anhielt.
Zu dieser Zeit hatte ich einen wiederkehrenden Traum, der immer den Verlust meiner Mutter beinhaltete. Ich verstand erst nach einiger Zeit, dass die Trauer, die ich verspüre, mit dem Verlust der Heimat (motherland) zu tun hat. Meine Mutter, die in gewisser Weise meine Verbindung zu meiner Heimat Iran geworden ist, steht darüber hinaus für eine Form der Sicherheit und eine unendliche Liebe, die ich jederzeit spüre, wenn ich mit ihr telefoniere, falls ich auf Reisen bin, oder wenn ich zu ihr Nachause komme.
In vielen meiner Arbeiten der letzten Jahre, nicht nur in Land of Dreams, habe ich mich mit diesem Gedanken an die Heimat befasst. Dabei geht es mir um das Bild der Mutter und wofür es steht, doch ebenso um die Erinnerung an die Heimat, die geografische und kulturelle, und welche Möglichkeiten man hat, sich diese zu erhalten. Letztlich geht es zudem darum, diese Erinnerung loszulassen, weil sie einen festhält und sie einen gefangennimmt.
In Land of Dreams verbinden sich in Simin diese beiden Gedanken. Auf der einen Seite ist das Trauma der Hinrichtung des Vaters, an das sie immer wieder erinnert wird, doch andererseits ist da auch das Bild der Mutter, was sie in ihrem Herzen trägt.
War Sheila Vand für die Rolle der Simin für dich von Anfang an die Wunschbesetzung und wie war die Arbeit mit ihr?
Sheila fiel mir zum ersten Mal in A Girl Walks Home Alone at Night auf. Ich mochte ihre Ausstrahlung und das Geheimnisvolle in ihrem Auftreten und ihrem Blick, sodass ich nach New York fuhr, wo sie eine kleine Rolle in einem Theaterstück hatte.
Schließlich haben wir uns getroffen und verstanden uns auf Anhieb sehr gut. Wenn du meine früheren Arbeiten kennst, weißt du sicherlich, dass die Frauen, die ich meine Musen nenne, immer etwas von mir haben. Sie sind schön, introvertiert und intelligent, und vielleicht etwas seltsam. All dies trifft in meinen Augen auf Sheila zu, weshalb sie die beste Besetzung für die Rolle der Simin ist. 2019 haben wir dann bei einem Kurzfilmprojekt das erste Mal zusammengearbeitet, dann für Land of Dreams und zuletzt noch einmal an einem Kurzfilm.
Was mich an ihr fasziniert, ist, dass es nicht so aussieht, als würde sie eine Rolle spielen. Vielmehr verinnerlicht sie eine Figur und reichert den Charakter durch ihre Persönlichkeit an. Das macht es schwierig, zwischen den beiden Ebenen zu unterscheiden, doch andererseits braucht sie deswegen auch sehr wenige Vorgaben von mir als Regisseurin.
Eine interessante Parallele zwischen Land of Dreams und ihrer Rolle in Ana Lily Amirpours Film ist die Tatsache, dass sie eine Person spielt, die gleichzeitig ein Teil der Welt ist, die beide Film zeigen, aber ebenso auch nicht.
Beide Filme verbindet daneben noch dieses Surreal-Abstrakte. Bei A Girl Walks Home Alone at Night sind es die Horrorelemente, während es in meinem Film eigentlich kaum Elemente gibt, die sich wirklich oder real anfühlen. Alles wirkt wie, als würde man den Traum eines Fremden durchschreiten.
In beiden Geschichten geht es um Grenzen, zwischen Traum und Realität, aber auch zwischen Ost und West. Spannend wird es, wenn sich diese zwei Extreme begegnen und was dabei entsteht. Diese Sichtweise, die sich aus der iranischen Kultur speist, aber zugleich eben aus der westlichen Kultur, der Kunst, des Films und anderen Dingen, verbindet Amirpour und mich, wie ich finde. Im Gegensatz zu mir konnte sie den Iran zumindest in ihren Arbeiten hinter sich lassen, was man an ihrem zweiten Film The Bad Batch sieht, aber ich kann das bis heute nicht.
Die Arbeit von Drehbuchautor Jean-Claude Carrière und deine verbindet einen Hang zum Surrealen und zum Abstrakten. Viele Szenen in Land of Dreams wirken, als könnten sie, losgelöst vom Kontext der Handlung, Teil einer Installation in einem Museum für zeitgenössische Kunst sein. Vermisst du dieses Abstrakte und das Surreale eigentlich in der heutigen Kunstwelt und im Film?
Das finde ich durchaus. Das hat aber auch etwas mit der Rezeption von Kunst und Film an sich zu tun, denn oft genug höre ich über meine Arbeiten, dass sie konfus, zu abstrakt oder verwirrend sind. Es verwundert mich jedes Mal, denn alleine im Film, im iranischen, europäischen und dem US-amerikanischen haben wir doch eine ganze Reihe von Beispielen von Filmemachern, die sehr abstrakte Kunstwerke geschaffen haben. In den Filmen von David Lynch, Terence Malick oder Abbas Kiarostami geht es um eine Sichtweise auf komplexe Themen, die mit Mitteln der Abstraktion inszeniert werden, die man heute mit eben jenen Labeln versieht, die ich gerade aufgelistet habe.
Leider hat die Pandemie alles nur noch schlimmer gemacht. Kunst und Film sind mehr denn je zu einem Zeitvertreib geworden und werden auf ihren Unterhaltungswert beschränkt. Luis Buñuel hat einmal in einem seiner Filme eine Figur auftreten lassen und in der Mitte des Filmes die Schauspielerin gewechselt, die noch dazu eine ganz andere Haarfarbe hatte. Zuletzt hat Paul Thomas Anderson in Licorice Pizza noch eine Coming-of-Age-Geschichte erzählt, die sehr abstrakt in narrativer wie auch ästhetischer Hinsicht ist.
Dieser unkonventionelle Ansatz, der auch meine Arbeiten ausmacht, treibt nicht sehr viele Zuschauer ins Kino, was schade ist, aber ich kann, gerade als Performancekünstlerin und Fotografin, deswegen nicht meine Arbeitsweise ändern. Das bedeutet aber auch, dass es immer schwieriger wird, ein Projekt finanziert zu bekommen, was nicht diesem kommerziell-konventionellen Ansatz entspricht oder was keinen Star zu bieten hat. In einer Kultur wie dem Iran kommen dann noch andere Aspekte ideologisch-politischer Natur hinzu, welche die Finanzierung eines Projekts bisweilen unmöglich machen.
Ganz allgemein, wann ist für dich der Punkt gekommen, ab dem du weißt, dass ein Projekt oder eine Idee, die du hast, ein Film, eine Fotografie oder eine Performance wird?
Anfangs habe ich diese Bereiche meiner Arbeit getrennt voneinander gehalten, doch mit Land of Dreams wollte ich einen Neuanfang wagen. Als ich Women Without Men begann, wollte ich diese Geschichte als Film erzählen und diese Figuren und Themen nicht noch in meinen anderen Arbeiten aufgreifen, obwohl ich dies letztlich tat. Jetzt sehe ich es als eine Herausforderung an, ein Konzept zu nehmen und es in diese drei Ansätze zu übertragen, weshalb Land of Dreams all diese Herangehensweisen vereint.
Wenn ich jetzt einen Kurzfilm oder ein Video mache, dann frage ich mich, ob man diese Idee oder diese Figuren auch in ein anderes Medium übertragen kann, was ich vorher nicht tat. Als Künstlerin fühle ich, dass ich an einem Punkt angelangt bin, an dem es Zeit wird, Grenzen zu überschreiten.
Vielen Dank für das Gespräch.
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