Seit dem Selbstmord seines Freundes Alan ist Charlie (Brendan Fraser) in einem tiefen Loch gefangen. Seine Wohnung hat er schon seit Ewigkeiten nicht mehr verlassen, in seiner Trauer hat er sich so viel Gewicht angefressen, dass er sich kaum mehr belegen kann. Seiner Arbeit als Englischprofessor geht er zwar nach wie vor nach, tut dies aber von zu Hause aus, in seinen Zoom-Seminaren lässt er bewusst die Kamera aus, um von niemandem gesehen zu werden. Lediglich Alans Schwester Liz (Hong Chau), die sich regelmäßig um ihn kümmert, lässt er noch an sich heran. Doch auch sie kann nicht verhindern, dass er immer stärker abbaut. Bevor es zu spät ist, will sich Charlie aber noch mit seiner Tochter Ellie (Sadie Sink) versöhnen, die er seinerzeit ebenso verlassen hat wie seine Frau Mary (Samantha Morton) …
Gefangen in einem Loch
Es geht doch nichts über eine schöne Comeback-Geschichte! In der Hinsicht war die diesjährige Oscar-Verleihung eine sehr emotionale Angelegeheit, zumindest bei der Verleihung der Schauspiel-Preise dürften dieses Mal besonders viele Tränen vergossen worden sein. Nicht nur dass Michelle Yeoh und Jamie Lee Curtis eine lang überfällige Würdigung erhielten, auch Ke Huy Quan, der nach seinen frühen Kindheitserfolgen viele Jahre überhaupt keine Rollen mehr bekam, durfte sich über eine Auszeichnung freuen. Doch der dramatische Höhepunkt dürfte die Auszeichnung von Brendan Fraser für The Whale gewesen sein. Auch er war nach einer Reihe sehr erfolgreicher Titel viele Jahre verschwunden, hatte zudem mit gesundheitlichen Schwierigkeiten zu kämpfen sowie einer Depression.
Insofern war er gewissermaßen eine Idealbesetzung für einen Mann, der nach einem Schicksalsschlag in ein tiefes Loch fällt. Die seelischen Probleme gehen in dem Film mit körperlichen einher, wenn Charlie so starkes Übergewicht hat, dass ihn schon die einfachsten Tätigkeiten überfordern. Das brachte einige Kontroversen mit sich. Manche warfen The Whale vor, Übergewicht als reine Krankheit zu beschreiben. Tatsächlich gibt es eine Reihe von Szenen, in denen der Protagonist als abstoßend bezeichnet wird oder die Menschen ganz erschrocken reagieren, wenn sie ihn das erste Mal sehen. Der trauernde Mann wird zu einem Monster, mit dem niemand etwas zu tun haben möchte. Lediglich Liz ist freiwillig da. Und Thomas (Ty Simpkins), ein Weluntergangs-Missionar, der stets höflich und hilfsbereit auftritt, Charlie insgeheim aber verachtet.
Schauspielerischer Triumph
Allgemein sind die zwischenmenschlichen Beziehungen hier oft kaputt. Ein wichtiges Thema im Film ist es, diese wieder zu reparieren oder sich allgemein einander anzunähern. Am deutlichsten ist das natürlich bei Charlie, der unbedingt eine Versöhnung mit seiner Tochter sucht und möchte, dass sie nach seinem Tod gut versorgt ist. Aber auch bei den anderen gibt es Versuche, Gräben zu überwinden, Verständnis zu entwickeln und den wahren Kern hinter der Fassade zu finden. Einer der Schlüsselmomente in The Whale ist es, wenn der Lehrer den Studenten und Studentinnen mitzugeben versucht, dass die Ehrlichkeit ihrer Texte alles ist, worauf es ankommt. Das ist am Ende vielleicht nicht ganz so tiefsinnig, wie sich das Drehbuchautor Samuel D. Hunter vorgestellt hat, der hier sein eigenes Theaterstück adaptiert. Vieles, was hier angesprochen wird, bleibt an der Oberfläche. An manchen Stellen wählt Kult-Regisseur Darren Aronofsky zudem eine etwas plakative Weise, um seine Geschichte zu erzählen. Er scheut auch vor offenen Manipulationen nicht zurück.
Und doch ist das Drama, welches bei den Filmfestspielen von Venedig 2022 Weltpremiere hatte, sehenswert. Wie hier Fraser alles gibt, das ist durchaus ein schauspielerischer Triumph. Und auch sonst ist das Ensemble stark, die ebenfalls für einen Oscar nominierte Hong Chau zeigt einmal mehr, was für eine fantastische Darstellerin sie ist. Da sind reihenweise beeindruckender Szenen dabei, die einen atemlos zurücklassen. Man mag bei The Whale so einiges in Frage stellen, inhaltlich wie inszenatorisch. Darstellerisch lässt sich dem Film aber kein Vorwurf machen. Wer sich auf diese Tour de force einlassen kann und will, erlebt einen mal herzerweichenden, mal schockierenden Blick auf geschundene Seelen. Das muss man dann alles in der Form nicht gut finden. Es lässt einen aber im Anschluss nicht mehr los.
OT: „The Whale“
Land: USA
Jahr: 2022
Regie: Darren Aronofsky
Drehbuch: Samuel D. Hunter
Vorlage: Samuel D. Hunter
Musik: Rob Simonsen
Kamera: Matthew Libatique
Besetzung: Brendan Fraser, Sadie Sink, Hong Chau, Ty Simpkins, Samantha Morton
Preis | Jahr | Kategorie | Ergebnis | |
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Academy Awards | 2023 | Bester Hauptdarsteller | Brendan Fraser | Sieg |
Beste Nebendarstellerin | Hong Chau | Nominiert | ||
Bestes Make-up/Haare | Adrien Morot, Judy Chin, Annemarie Bradley-Sherron | Sieg | ||
BAFTA | 2023 | Bester Hauptdarsteller | Brendan Fraser | Nominiert |
Beste Nebendarstellerin | Hong Chau | Nominiert | ||
Bestes adaptiertes Drehbuch | Samuel D. Hunter | Nominiert | ||
Bestes Make-up/Haare | Adrien Morot, Judy Chin, Annemarie Bradley-Sherron | Nominiert | ||
Golden Globes | 2023 | Bester Hauptdarsteller (Drama) | Brendan Fraser | Nominiert |
Venedig 2022
Toronto International Film Festival 2022
International Film Festival Rotterdam 2023
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