Wer bin ich? Was macht mich aus? Das sind Fragen, die sich die meisten Menschen irgendwann im Laufe eines Lebens fragen werden, die einen bewusst, die anderen weniger. Erschwert wird das, wenn man verschiedene Einflüsse hat und diese irgendwie in Einklang bringen muss. So auch Sergio Guataquira Sarmiento. Der wurde in Bogotá geboren und haderte mit seiner indigenen Herkunft, die ihm als Kind viel Spott einbrachte. Später zog er nach Frankreich, um dort zu studieren, bis er eine weitere Heimat in Belgien fand. In Adieu sauvage, dem ersten Langfilm des Kolumbianers, kehrt er wieder zu seinen Ursprüngen zurück und tritt die Reise in das Land seiner Vorfahren an.
Am Anfang war der Selbstmord
Der Anlass ist ein trauriger: Zuvor hatte er erfahren, dass es unter den Cácuas, einer indigenen Bevölkerungsgruppe, zu einer rätselhaften Selbstmordwelle gekommen ist. Immer mehr junge Menschen ziehen sich in die Urwälder zurück, um sich dort das Leben zu nehmen. Und so reist Sarmiento nach Kolumbien, um der Sache auf die Spur zu gehen. Hilfe erhält er dabei durch Laureano, der den Heimkehrer in sein Dorf einlädt und mit ihm über das Thema spricht. Immer mal wieder kommt dieses dann auf. Da geht es um gebrochene Herzen, um Perspektivlosigkeit. Darum, dass in der Welt gefühlt kein Platz mehr für einen ist. Adieu sauvage spricht darüber zwar in der dritten Person, emotional wird es trotzdem. Auch ohne diese jungen Menschen zu kennen, geht einem ihr Schicksal nahe.
Und doch ist der Beitrag vom DOK.fest München 2023 kein Film, der sich am Unglück anderer weidet, dieses womöglich mit schwerer Musik manipulativ ausschlachtet und voyeuristische Bedürfnisse befriedigt. Das Interesse des Regisseurs ist echt, weil diese Vorfälle auch in ihm etwas auslösen. Tatsächlich wandelt sich Adieu sauvage mit der Zeit in ein sehr persönliches Werk, in dem die Lebensgeschichte des Filmemachers eine große Rolle spielt. Es geht dann nicht nur um die jungen Menschen, sondern die komplette Gemeinschaft. Es geht auch darum, welche Rolle er selbst in dieser spielt. Ist er ein Mitglied, kann er es sein? Oder ist er nur ein Tourist, der nach dem Abschluss seiner Dreharbeiten den Rücken kehrt, als wäre nichts gewesen?
Wunderbar bebilderte Entdeckungsreise
Unterwegs darf das Publikum sehr viel über diese Bevölkerungsgruppe erfahren. Da gibt es Einblicke in das Leben dieser indigenen Menschen, den Alltag. Auch der Glaube spielt eine Rolle. Die Natur ist bei diesen Menschen nicht nur physisch sehr nah. Sie ist auch ein fester Teil ihres Lebens und ihrer Weltansicht. Das muss man nicht immer nachvollziehen können. Witzig ist beispielsweise die Passage, in der sich Sarmiento auf ein für unser Empfinden groteskes Ritual einlässt, um sein Schnarchen zu heilen. Adieu sauvage macht sich aber nicht über diesen Glauben oder die Menschen lustig, sondern nimmt dankbar die Einladung an, einmal eine andere Perspektive auszuprobieren. Eine Perspektive, die schon seit Langem marginalisiert wird und auszusterben droht.
Stoff, über den man nachdenken kann, gibt es daher einigen. Der Film hält schön die Balance aus Individuellem und Universellem, zeigt Einzigartiges und ist doch auch so angelegt, dass man sich aus der Ferne mit vielem identifizieren kann. Sehenswert ist Adieu sauvage aber auch der Bilder wegen. Die wunderbaren Schwarzweiß-Aufnahmen nehmen die Zuschauer und Zuschauerinnen mit auf eine ganz eigene Reise. Sie unterstützen auch die poetische Ader, welche die dokumentarische Reise immer hat. Wer die Möglichkeit hat und sich für solche persönlichen Entdeckungsreisen interessiert, sollte dieser belgischen Produktion daher eine Chance geben. Das Ergebnis ist ein Werk, das eine Vielzahl von Gefühlen auslöst und dabei eine große Faszination in einem weckt.
OT: „Adieu sauvage“
Land: Belgien
Jahr: 2023
Regie: Sergio Guataquira Sarmiento
Drehbuch: Sergio Guataquira Sarmiento
Musik: Clémentine Pacalet
Kamera: David Garcia
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