Seymour stammt aus einer Familie irakisch-jüdischer Immigranten und lebt schon seit einiger Zeit in Los Angeles. Während seine Frau Ida zuhause sich um ihren Nachwuchs kümmert, arbeitet er als Cutter in einer kleinen Filmproduktionsfirma, die sich in erster Linie auf Exploitationfilme spezialisiert hat. Sein eigentlicher Beruf ist Cutter, doch für seine Vorgesetzten ist Seymour so etwas wie ein „Mädchen für Alles“, und nicht selten muss er zwischen einem aufgebrachten Schauspieler und einem Regisseur schlichten. Viel wichtiger hingegen ist seine Arbeit am Schneidebrett, wo er zum einen in manchmal nur wenigen Stunden einen Trailer basteln muss oder jene Fehler ausbessern muss, die ein Film hat, angefangen von der Kaschierung der billigen Effekte bis hin zum Fehlen eines Darstellers, weil dieser in letzter Sekunde keine Lust mehr hatte und das Set verließ.
All dies lässt sich Seymour gefallen, weil er selbst einmal auf dem Regiestuhl Platz nehmen will und einen Film drehen möchte, der ihn so unsterblich machen könnte wie seine Vorbilder im Filmgeschäft. Für seine Träume hat Ida zwar durchaus Verständnis, fühlt sich aber mehr und mehr von ihrem Mann vernachlässigt, dem seine Arbeit wichtiger ist als seine Familie und der sie dies auch immer wieder spüren lässt. Immer weiter driften die Eheleute auseinander, bis eine Trennung nicht mehr aufzuhalten ist. Dann kommt es eines Tages doch zu dem Augenblick, auf den Seymour all die Jahre über gewartet hat. Nachdem ein Regisseur bei seinem Vorgesetzten in Ungnade gefallen ist, soll Seymour die Regie bei Blood of the Virgin übernehmen. Nach einem Moment des Zögerns nimmt dieser die Aufgabe an und lässt sich damit auf die wildesten Wochen seines Lebens ein, die nicht nur seine Beziehung zu Ida auf die Probe stellen, sondern auch seinen Traum.
Die Filmfabrik
Los Angeles ist nicht nur der Handlungsort von Blood of the Virgin, sondern auch die Heimat von Comiczeichner und -autor Sammy Harkham. Comicfans ist er in erster Linie wegen seiner Arbeit am Comicmagazin Crickets sowie der Anthologie Kramer’s Egot bekannt. In dem kürzlich auf Deutsch erschienen Blood of the Virgin erzählt Harkham eine Geschichte, die im Hollywood der 70er Jahre spielt, der Blütezeit des New Hollywood, aber auch des Exploitationkinos. Es ist eine große Erzählung über Träume und Ernüchterung, über eine Familie geprägt vom Trauma des Zweiten Weltkriegs und der Jugendverfolgung, und letztlich dem Wunsch, etwas zu kreieren und endlich in diesem Land anzukommen, in das man vor vielen Jahren hin auswanderte.
Auf den über 300 Seiten von Blood of the Virgin hat Sammy Harkham so einiges untergebracht, denn vor allem in thematischer Hinsicht ist dies ein wahres Opus. Zunächst einmal sind es die Ebene der Arbeit und die der Familie, welche die Handlung bestimmen, was dann aber wechselt zu immer weiter ausholenden Exkursen, beispielsweise zu Seymours Familie oder der problematischen Beziehung eines einfachen Cowboys, der in der Traumfabrik zwar Karriere machte, aber den Glauben an Freundschaft und Loyalität verlor. Als Dreh- und Angelpunkt der Handlung ist die Traumfabrik nicht nur Sehnsuchtsort des Protagonisten, sondern auch ein Platz, der so anders ist als die Erfahrungen, mit denen er und seine Familie in die USA kamen. Dass Ausbeutung (exploitation) nicht einfach nur auf die Filme passt, die Seymour am Schneidetisch und wenig später auch in anderen Positionen hilft herstellt, zeigt in der subtilen Art, mit der Harkham in einfachen, aber treffenden Kompositionen wie auch Dialogen die Mechanismen der Macht zeigt. So wird ein Mensch, der eigentlich nur höflich sein und helfen wollte, schnell zu einem „Mann für alle Fälle“, auf den man sich verlassen kann und auf dessen Schultern bald schon mehr Platz nimmt als nur Teile eines Sets oder ein Kostümkoffer. Es ist eine harte und nicht immer gerechte Welt, die Harkham zeigt – also eine, in der es Träumer nicht immer leicht haben und Gefahr gehen, ihren Idealismus schnell zu verlieren.
„Da sind auf einmal alle still.“
Jedoch ist Blood of the Virgin nicht einfach nur eine Geschichte über die Filmindustrie, wie sie beispielsweise Quentin Tarantino zuletzt in Once Upon A Time in Hollywood erzählte. Seymour und Ida sind Figuren, die das Erbe ihrer Eltern mittragen, was bisweilen wie ein Damoklesschwert über ihnen schwebt und sie erdrückt. Wie ein Stummfilm wirkt die Geschichte, der Mutter, die in einem Tagtraum ihr Leben, vom Anklopfen der SS-Soldaten an der Tür ihrer Eltern über die Konzentrationslager bis hin zur Überfahrt in die Staaten, an sich vorbeiziehen sieht. Harkham zeigt Figur, die sich losreißen wollen, dies aber nicht können, und sich in eine Illusion flüchten (oder verheddern), die zumindest für die Kosten einer Kinokarte temporär einen Ausweg verspricht. Indem die Filmindustrie immer mehr kommerzialisiert wurde und nicht mehr Filmfans, sondern Anwälte und Bürokraten das Sagen in Hollywood erhielten, scheint auch dieser Traum nunmehr wie eine Seifenblase zu sein, die kurz davor ist zu platzen.
OT: „Blood of the Virgin“
Land: USA
Jahr: 2023
Text: Sammie Harkham
Zeichnung: Sammie Harkham
Bei diesen Links handelt es sich um sogenannte Affiliate-Links. Bei einem Kauf über diesen Link erhalten wir eine Provision, ohne dass für euch Mehrkosten entstehen. Auf diese Weise könnt ihr unsere Seite unterstützen.
(Anzeige)