Irgendwie ist es grotesk. Auf der einen Seite ist der Fachkräftemangel ein in den Medien weit verbreitetes Thema, dazu gibt es viele Branchen wie etwa die Gastronomie oder der Einzelhandel, die händeringend nach Arbeitskräften suchen. Gleichzeitig gibt es offensichtlich aber immer noch genügend Unternehmen, die ihre Belegschaft wie Dreck behandeln, mit Dumpinglöhnen oder widrigen Arbeitsbedingungen auffallen. Zu wissen, dass das nicht in Ordnung ist, das ist das eine. Betroffen davon sind aber oft Menschen, die sich nicht wirklich dagegen wehren können. Glücklich ist da, wer in Österreich lebt. Denn dort gibt es die sogenannte Arbeiterkammer, die sich um die Belange von Arbeitnehmern und Arbeitnehmerinnen kümmern. Zu diesem Zweck müssen alle eine Arbeiterkammerumlage bezahlen, 0,5 Prozent des Lohns. Ein bisschen wie in einer Gewerkschaft, mit dem Unterschied, dass die Kammer nicht bessere Bedingungen erkämpft, sondern sich darum kümmert, dass die Bedingungen eingehalten werden.
Blick auf den Arbeitsalltag
Der Dokumentarfilm Für die Vielen stellt diese Institution vor, Anlass ist deren 100-jähriges Jubiläum. Dabei hat Regisseur Constantin Wulff keinen Rückblick vor Augen. Es werden keine Interviews geführt, um Hintergründe und Historie zu erläutern. Texttafeln, die etwas über die Entstehung sagen fehlt ebenso wie eine allgemeine Vorstellung, was die Arbeiterkammer überhaupt ist und tut. Wer nicht aus Österreich ist, wird deshalb anfangs erst einmal stutzen, worum es eigentlich geht. Stattdessen steigt Wulf in medias res ein, begleitet die Männer und Frauen bei ihrer täglichen Arbeit. Auch später wird er nichts kommentieren. Er zeigt, was geschieht, ohne zu werten oder zu leiten. Das macht den Einstieg etwas schwieriger, führt aber dazu, dass das Publikum einen besseren Einblick erhält: mehr Praxis, weniger Theorie.
Zu tun haben die Leute, die bei der Kammer angestellt sind, mehr als genug. Viele der Geschichten, die Für die Vielen zu erzählen hat, sind dramatisch. Klar, wer bei der Institution vorbeischaut, tut dies, weil irgendwelche Probleme vorliegen. Geradezu schockierend ist etwa, wenn manchen einfach ihr Lohn nicht ausgezahlt wird, teils monatelang. Andere werden unter fadenscheinigen entlassen. In solchen Fällen kommt die Arbeiterkammer zum Einsatz. Wer deren Dienste in Anspruch nimmt, muss eine Vollmacht unterschreiben und der Kammer damit das Recht geben, von ihr vertreten zu werden. Wie es im Anschluss weitergeht, wird jedoch nicht gezeigt. Wulff bleibt lieber vor Ort und beschreibt den Moment, anstatt eine Langzeitbeobachtung daraus zu machen.
Zäsur Corona
Wobei es durchaus auch eine zeitliche Komponente gibt. Genauer wird die normale Arbeit der Kammer durch die Corona-Pandemie unterbrochen. Plötzlich muss sich die Arbeiterkammer mit denselben Ungewissheiten und Maßnahmen auseinandersetzen, die alle in dieser Zeit mitmachen mussten. Da wird Abstand gehalten, werden Masken getragen, Besprechungen finden plötzlich am Computer statt, nicht mehr von Angesicht zu Angesicht. Für die Vielen spricht dabei aber auch einen anderen Aspekt an, der die Kammer direkt betrifft: Wie wird sich die Arbeit in Folge der Pandemie ändern? Und was bedeutet das für die Kammer an sich, sowohl kurzfristig wie auch langfristig?
Letzterer Punkt wird natürlich nicht beantwortet, dafür musste das Projekt zu früh beendet werden. Schließlich feierte der Dokumentarfilm Anfang 2022 Premiere bei der Berlinale, konnte also spätere Entwicklungen notgedrungen nicht mehr mitnehmen. Doch auch wenn einiges dadurch notgedrungen ein wenig überholt ist, ist das Ergebnis sehenswert. Für die Vielen ist trotz der nüchternen Art ein Film, der einen beim Zusehen mitnimmt. Er erinnert einen auch daran, Arbeit und vor allem die Menschen, die sie ausführen, wertzuschätzen. Wulff gibt denjenigen eine Stimme, die sonst oft nicht gehört werden, zeigt aber auch jene, die ihnen zuhören und helfen wollen.
OT: „Für die Vielen“
Land: Österreich
Jahr: 2022
Regie: Constantin Wulff
Kamera: Johannes Hammel, Michael Schindegger
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