Spätestens seit dem durchschlagenden Erfolg des schwedischen Spielfilms Wie im Himmel aus dem Jahr 2004 gilt das Singen im Chor wieder als beliebtes Hobby. Sowohl der Gesang, als auch die Gemeinschaft steigern, wie es immer wieder heißt, das Wohlbefinden. Wenn Menschen im Rentenalter, auf der Suche nach einer sinnvollen und vergnüglichen Beschäftigung, also das Chorsingen für sich entdecken, verwundert das nicht. Die Senioren und Seniorinnen aber, die den Hamburger Chor Heaven Can Wait bilden, überraschen ihr Publikum gründlich. Sie stehen in rosa- oder orangefarbenen Kostümen auf der Bühne, recken die Arme keck in die Höhe, schwingen die Hüften und singen mit Soloeinlagen, wie in einem Musical. Am meisten aber erstaunt ihr wechselndes Programm, mit dem sie auf Tournee gehen: Zum Repertoire gehören Songs der Fantastischen Vier, von Deichkind, Jan Delay, Nirvana, Marteria, Lindenberg oder Sido, welche die junge Generation schätzt.
Die jungen Pop-, Rock- und Hip-Hop-Lieder wirken ganz anders, wenn sie von 80-Jährigen vorgetragen werden. Auf einmal stecken sie voller Lebensweisheit oder entfalten den Schwung derer, die keine Zeit mehr zu verlieren haben. „Wir sind zusammen groß“ – die Verse der Fantastischen Vier beispielsweise interpretiert Heaven Can Wait als Entdeckung betagter, vereinzelter Menschen, dass sie Gleichgesinnte und mit ihnen neue Freude am Leben finden können. Das Mindestalter im Chor, der 2023 sein zehnjähriges Bestehen feiert, liegt bei 70 Jahren, die älteste Sängerin ist 97. Regisseur Sven Halfar (Yes I Am!, Tatort: Propheteus) hat den Chor vor der Corona-Pandemie und durch die ihr geschuldete Pause begleitet, bis hin zu erneuter Aktivität. Zu den Aufnahmen der Bühnenauftritte und Proben gesellen sich Porträts einzelner Sängerinnen und Sänger, die die Filmkamera in ihre Wohnungen ließen und von sich erzählen.
Lebendig sein, Gefühle zeigen
Chorleiter Jan-Christof Scheibe ermutigt seine Leute, beherzt drauflos zu singen. Wichtig sei nicht der perfekte Ton, sondern der emotionale Ausdruck. Und gerade mit dem Zeigen von Gefühlen haben die Sänger und Sängerinnen oft Probleme. Sie gehören einer Generation an, die streng erzogen wurde. Ihre Mutter habe sie nie gelobt, erinnert sich eine Frau. Ein Mann sagt, in seinem Beruf sei es von Vorteil gewesen, keine Gefühle zu offenbaren. Die eigenen Wünsche, Träume, den Schmerz und die Sehnsucht in einem Lied auszudrücken, auch das will gelernt sein. Der Chorleiter holt die Menschen, die vom Alter her seine Eltern sein könnten, aus der Reserve. Seine eigene Mutter – Evamarie Scheibe – singt ebenfalls mit im Chor und erfüllt ihn mit Stolz: „Sie rockt das Haus!“
Im Wechsel kurz geschnittener Szenen springt der Beitrag vom DOK.fest München 2023 leicht und locker mal hierhin, mal dorthin, von Stippvisiten in den Alltag von Chormitgliedern zum gemeinsamen Üben und wieder zu Einzelstatements. Die Männer und Frauen blicken zurück auf ihr Leben, berichten über die Plagen und die Freuden des Alters. Wobei die Freuden deutlich überwiegen in den immer wieder bewegenden Schilderungen. Mehrere Männer und Frauen sagen, dass sie erst jetzt das Gefühl haben, frei und selbstbestimmt zu leben. Das Chorerlebnis habe ihnen geholfen, sich präsenter zu fühlen und sie angeregt, auch sonst öfter mal der eigenen Neugier oder Lust und Laune zu folgen. Das Publikum dieses unterhaltsamen Films, der mit Klischees über den sogenannten Ruhestand bricht, muss feststellen: Auch 80-Jährige können voller Energie stecken. Diesen Senior*innen zuzuhören und zuzuschauen bedeutet, die eigene Angst vor dem Altwerden schwinden zu sehen.
OT: „Heaven Can Wait – Wir leben jetzt“
IT: „Heaven Can Wait – We Live Now“
Land: Deutschland
Jahr: 2023
Regie: Sven Halfar
Musik: Nils Kacirek
Kamera: Julia Lohmann, Matthias Wittkuhn
Amazon (DVD „Heaven Can Wait – Wir leben jetzt“)
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