Innerhalb der Filmgeschichte gibt es wohl kaum einen Regisseur, über den so viel geschrieben wurde wie Alfred Hitchcock. Vor allem durch seine langen, ausführlichen Interviews mit François Truffaut wurde der Filmemacher und sein Werk nicht mehr länger nur wegen seiner technischen Versiertheit und seiner Unterhaltungswertes betrachtet, sondern auch filmgeschichtlich entsprechend gewürdigt. Heutzutage ist es kaum überraschend, einen Film wie Vertigo – Aus dem Reich der Toten in vielen Listen der besten Filme aller Zeiten zu sehen. Werke wie Psycho, Die Vögel, Das Fenster zum Hof oder Der unbekannte Dritte haben sich wegen ihrer bekannten Bilder und Sequenzen ins popkulturelle Gedächtnis eingebrannt und werden mit gewisser Regelmäßigkeit von diversen anderen Filmemacher zitiert, entweder in ihren eigenen Werken oder als deren Inspiration. Angehende Regisseure, Cutter, Kameramänner und -frauen und andere Filmschaffende lernen anhand der genannten Beispiele ihr Handwerk und wie ein Film funktioniert. Diese Omnipräsenz des britischen Regisseurs hat zur Folge, dass es in der Rezeption ein solches Überangebot ist, dass man leicht dazu übergeht, die Werke als altmodisch oder wenig zeitgemäß einzustufen, gerade weil zu ihnen alles gesagt wurde.
Diese Behauptung ist zumindest eine sehr gängige, aber auch falsche Sichtweise, wie der nordirische Regisseur, Filmkritiker und Autor Mark Cousins wohl sagen wird. Schon in seinen Dokumentationen The Story of Film: An Odyssey und The Story of Film: A New Generation ging es ihm nicht allein um eine Filmgeschichte, sondern vielmehr um eine andere Sichtweise auf Filme, deren Macher und deren Produktionsumstände. In seiner neuen Arbeit My Name Is Alfred Hitchcock, die auf dem diesjährigen DOK.fest München gezeigt wird, verfolgt er einen ähnlichen Ansatz. Unterteilt in insgesamt sechs Kapitel sowie mittels eines begleitenden Kommentars von Hitchcock selbst geht es darum, das Werk des Briten neu zu sehen und zu entdecken, doch vor allem darum, zu zeigen, was es uns heute noch sagen kann. Hierbei ergeben sich überraschende und sehr interessante Einblicke, die auch für Zuschauer, die mit den Filmen Hitchcocks vertraut sind, sicherlich lohnenswert sind.
Sehr viel Wahres und eine Lüge
Der sympathische, immer wieder leicht ironische Kommentar Hitchcocks sagt uns gleich zu Beginn, dass er sehr offen über seine Werke und dessen Themen sprechen wird, wir ihm vertrauen können, auch wenn er uns einmal belügen wird. Die Prämisse, die an Orson Welles’ F is for Fake erinnert, dient Cousins als Struktur seiner Dokumentation, zusammen mit den bereits erwähnten Kapiteln, in denen mittels sehr vieler Szenenbeispiele auf Themen wie Einsamkeit, Entkommen, Begehren eingegangen wird. Der Blick von James Stewart Figur in Das Fenster zum Hof, der Grace Kellys Charakter auf einmal mit ganz anderen Augen und einem Blick des Begehrens ansieht, oder eben der von Anthony Perkins gespielte Norman Bates, dessen Rede über Einsamkeit nicht nur auf ihn gemünzt ist, sondern auf viele Figuren in Psycho oder im weiteren Verlauf Hitchcocks Gesamtwerk. Gleichzeitig kommentiert Hitchcock diese neue Zeit, spricht scheinbar direkt zu jungen Menschen, die sich ebenso in der digitalen Welt einsam und verlassen fühlen, oder bezieht sich auf unser Begehren, wo wir es uns selbst verbieten und wann wir es uns erlauben. Wie schon in seinen anderen Dokumentationen zur Filmgeschichte ist dies ein faszinierender Filmessay, der unterhält und einen diese Filme neu betrachten lässt.
OT: „My Name Is Alfred Hitchcock“
Land: UK
Jahr: 2022
Regie: Mark Cousins
Drehbuch: Mark Cousins
Musik: Donna McKevitt
Kamera: Mark Cousins
Telluride Film Festival 2022
DOK.fest München 2023
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