Als Zara (Simon(e) Jaikiriuma Paetau) einen Nervenzusammenbruch erleidet, liegt es an ihrer Schwester Eva (Simone Bucio), die von ihr begonnene Arbeit als Geräuschemacherin zu beenden. Aufgabe ist es, bei einem Werbespot ein Pferd zu vertonen. Zunächst fällt ihr dieses Gebiet etwas schwer, da ihr die Erfahrungen fehlen und ihr introvertiertes Naturell ihr im Weg steht. Doch je mehr sie sich damit beschäftigt, umso mehr wächst sie in diese Aufgabe hinein – bis aus ihrem Steißbein ein Schweif wächst. Für Zara ist das aber nur Teil einer grundlegendenden Wandelung, die auch eine leidenschaftliche Affäre mit dem Botaniker Novak (Sebastian Rudolph) beinhaltet …
Eigenwillig bis surreal
Deutsche Filme seien immer gleich, lautet ein oft geäußerter Vorwurf. Das ist durchaus verständlich, zumindest im Hinblick auf die bekannteren Werke. Gerade Fernsehfilme, die darauf geeicht sind, ein Millionenpublikum zu erreichen, sind oft so genormt, dass man das Gesehene bereits vergessen hat, noch bevor es zu Ende ist. Aber auch im Kino würde man sich zuweilen mehr Mut wünschen. Eben dort läuft nun mit Piaffe ein Film an, der so eigenwillig ist, dass er sich hervorragend als Gegenbeispiel für das obige Vorurteil eignet. Tatsächlich ist er so eigenwillig, dass nicht wenige ratlos vor dem Gezeigten sitzen werden und sich fragen, was genau das da ist oder auch sein soll.
Wobei es durchaus Vergleichsmöglichkeiten gibt. Eine, die sich geradezu aufdrängt, ist die mit dem Briten Peter Strickland. Beispielsweise erinnert die Arbeit an den Geräuschen an dessen Berberian Sound Studio (2012), das überwiegend in einem Tonstudio spielte und von der Vertonung eines Horrorfilms handelte. Aber auch dessen Folgewerk Duke of Burgundy (2014) bietet sich an. So wie dort geht es in Piaffe streckenweise um eine SM-Beziehung zweier Menschen und damit das Spiel zwischen Kontrolle, Unterwerfung und Begierde. Und wenn dann doch die surreale Transformation der Protagonistin ansteht, öffnet sich ohnehin die filmische Büchse der Pandora. Das geht von David Lynch bis zum Goldene-Palme-Gewinner Titane (2021), bei dem die Grenzen zwischen Mensch und Maschine aufgehoben werden. Und die zwischen den Geschlechtern gleich mit.
Sinnliche Abkehr vom Narrativen
Letzterer Aspekt wird bereits durch die Pflanzenwelt vorgegeben. Nicht ganz zufällig hat sich Regisseurin und Co-Autorin Ann Oren für Farne entschieden, die als Hermaphroditen Elemente beider Geschlechter hat. Wie ihre französische Kollegin Julia Ducournau erzählt die in Tel Aviv geborene, inzwischen in Berlin lebende Künstlerin und Filmemacherin in Piaffe von der Aufhebung von Grenzen und festen Kategorien. Die beiden eint zudem, dass sie keine Gebrauchsanweisung mitliefern, wie diese zahlreichen Elemente sich anwenden und lesen lassen. Die Geschichte um eine Frau, die neue Seiten an sich entdeckt, lädt geradezu dazu ein, nach Lust und Laune zu interpretieren und zu rätseln, ohne dass es eine Garantie gibt, aus diesem surrealen Bilderreigen wirklich einen Sinn für sich herauszukristallisieren.
Aber selbst wenn am Ende Fragen offen bleiben – oder man nicht einmal bis zu den Fragen gekommen ist –, lohnt sich ein Besuch bei diesem sonderbaren Spielfilmdebüt. Das Drama, welches 2022 in Locarno Premiere feierte, ist ein sehr sinnlicher Film, der großen Wert darauf legt, dass das Publikum hier auf vielfache Weise angesprochen wird. Das betrifft zum einen natürlich das Akustische, logisch, wenn der Ausgangspunkt die Arbeit einer Geräuschemacherin steht. Aber auch visuell steckt hier jede Menge drin. Egal ob nun die Pflanzen im Mittelpunkt stehen, es um Pferde geht oder das Ausleben sexueller Fantasien, da gibt es schon einiges zu sehen. Nur muss man schon eine Vorliebe für diese Art Filme haben, die sich vom traditionellen Narrativen verabschieden und lieber eine andere Form des Geschichteerzählens bevorzugen, um Piaffe genießen zu können. Sonst drohen Verwirrung oder auch Frust.
OT: „Piaffe“
Land: Deutschland
Jahr: 2022
Regie: Ann Oren
Drehbuch: Ann Oren, Thais Guisasola
Musik: Daniela Lunelli aka Munsha, äbvsd, VTSS
Kamera: Carlos Vasquez
Besetzung: Simone Bucio, Sebastian Rudolph, Simon(e) Jaikiriuma Paetau
Locarno 2022
Filmfest Hamburg 2022
Max Ophüls Preis 2023
achtung berlin 2023
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