Busfahrt durch Berlin: Der Blick fällt auf ein buntes Völkchen. Männer küssen sich auf offener Straße, Jongleure sorgen für Unterhaltung an einer roten Ampel, ein Pärchen radelt Tandem im Partnerlook. Warum sollte hier kein Platz sein für zwei ganz besondere Menschen höchst gegensätzlicher Natur? Greta (Caroline Peters) arbeitet als Schulsekretärin und ist alleinerziehend, fantasiert sich in Lügen und bizarren Selbstinszenierungen aber in ein verrückteres, grandioseres, aufregenderes Leben. Der 20 Jahre ältere Alexander (Burghart Klaußner) hingegen verteidigt seine Zwangsneurosen mit einer Bitterkeit, die einen Eishauch durch seine pleitegehende Metzgerei wehen lässt.
Hinreißend verrückt
Auftritt Greta: Sie küsst einen wildfremden Mann auf den Hals, versinkt in Peinlichkeit, verfällt in eine Wutrede, entschuldigt sich und tischt dann die Lüge auf, ihr Mann sei vor kurzen gestorben und sie habe den Unbekannten mit dem Toten verwechselt. Und das alles im sekundschnellen Wechsel, ohne Punkt und Komma. Die Frau ist ein Ereignis, eine Mischung aus Hurrikan, Dampfwalze und Wasserfall. Natürlich kennt man das Muster der exzentrischen Frau aus der Screwball-Komödie, aber selten war eine weibliche Figur so hinreißend „over the top“, so unerforschlich in ihren Widersprüchen und so sprühend in ihren rasant wechselnden Launen.
Würde man zu Superlativen neigen, müsste man sagen, Caroline Peters spiele hier die Rolle ihres Lebens. Auf jeden Fall ist es die bislang eindrücklichste Kino-Darbietung ihrer Karriere, die auch Theater, Fernsehen und Hörbuch umfasst. Sie gibt nicht nur die turbulente Komödiantin, sondern lässt hinter dem äußeren Krawall die innere Verletztheit spüren. Burghart Klaußner hat es als in sich gekehrter Brummelkopf schwer, dagegen anzuspielen, zumindest in der ersten Viertelstunde. Aber ganz langsam taut er auf aus seiner inneren und äußeren Erstarrung. Und lässt in fein gezeichneten Momenten einen Menschen mit überraschendem Lebenshunger sowie Risse im eng geschürten Charakterpanzer erkennen.
Auf Burghart Klaußner geht übrigens der Anstoß zurück, aus dem Theaterstück Heisenberg des britischen Dramatikers Simon Stephens einen Kinofilm zu machen. Er und Caroline Peters spielten nämlich auch bei der deutschen Erstaufführung 2016 am Düsseldorfer Schauspielhaus die Hauptrollen. Und Klaußner war so überrascht davon, wie gut die hintersinnige Komödie beim Publikum funktionierte, dass er den eigentlich für ernstere Sujets bekannten Regisseur Lars Kraume (Der Staat gegen Fritz Bauer, 2015, Der vermessene Mensch, 2023), mit dem er schon mehr als einmal zusammengearbeitet hatte, auf das Zweipersonenstück aufmerksam machte.
Eine Hymne auf die Freiheit
Die Unschärferelation der Liebe nutzt den Realismus, den das Kino der Bühne voraus hat, und verlegt das Kammerspiel auf die offene Straße in ein meist nächtliches und immer romantisch ausgeleuchtetes Berlin. Lange Einstellungen und eine überwiegend ruhige Kamera (Jens Harant) lassen den beiden Komödianten den Raum, den sie brauchen, um zu Höchstform aufzulaufen. In seinen Bildern scheint der Film bereits mehr vom Entwicklungspotenzial der Figuren zu wissen als sie selbst. Aber nie verrät er die titelgebende Theorie des Quantenphysikers Werner Heisenberg, dass man Orte und Impuls selbst kleinster Teilchen nie gleichzeitig präzise bestimmen kann. Wie sehr muss dieses Moment von Spontaneität und Freiheit dann bei komplexen Wesen wie dem Menschen gelten! Was Greta und Alexander im nächsten Augenblick tun werden, bleibt konsequent offen, darin liegt neben ihrem romantischen Charme die größte Stärke von Kraumes Komödie.
So wandelt sich der Film fast unmerklich von der Screwball-Comedy zu einer realistischeren Betrachtung über die Liebe und das Leben im Allgemeinen. Er wird zu einer Ermunterung, dass Menschen nicht perfekt sein müssen, um eine Chance auf ein bisschen Glück zu erhalten. Und er plädiert dafür, Charaktere nicht in Schubladen zu stecken, sondern in ihnen stets das Offene und das Potenzial zu suchen, aus festgefahrenen Sackgassen auszubrechen. Das ist es wohl, was bereits im Theaterstück das Publikum faszinierte. Der Film steht dem in nachts nach.
OT: „Die Unschärferelation der Liebe“
Land: Deutschland
Jahr: 2023
Regie: Lars Kraume
Drehbuch: Dorothee Schön, Lars Kraume
Vorlage: Simon Stephens
Kamera: Jens Harant
Besetzung: Caroline Peters, Burghart Klaußner, Carmen-Maja Antoni
Wer mehr über den Film erfahren möchte: Wir hatten die Gelegenheit, uns mit Regisseur Lars Kraume zu unterhalten. Im Interview zu Die Unschärferelation der Liebe sprechen wir über die Dreharbeiten und seinen Respekt vor dem Komödienfach.
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