Pantin, eine Arbeiterstadt nordöstlich von Paris: Plattenbauten, Hochhäuser und viele Einwanderer. Nicht gerade ein Nährboden für die Liebe zur klassischen Musik. Aber die Eltern der Zwillingsschwestern Zahia (Oulaya Amamra) und Fettouma (Lina El Arabi) sind anders. Abends sitzen die einfachen Leute, die aus Algerien eingewandert sind, vor dem Fernseher und hören Symphoniekonzerte mit Stardirigenten, etwa Sergiu Celibidache (Niels Arestrup). Schon im zarten Alter von sieben entdeckt Tochter Zahia ihre Leidenschaft fürs Dirigieren. Und Fettouma übt Cello, bis sich die Nachbarn beschweren. Der größte Wunsch der beiden ist ein Leben für die Musik. Doch die Hürden in den 1980er und 1990er Jahren sind hoch, wie Regisseurin Marie-Castille Mention-Schaar auf der Basis einer realen Geschichte wunderbar einfühlsam erzählt.
Elitär und versnobt
Zahia und Fettouma sind mit 17 so talentiert, dass ihnen die Lehrer am heimischen Konservatorium nichts mehr beibringen können. Mit Unterstützung der Eltern wechseln sie an das renommierte „Lycée Racine“ in Paris. Die dortige Musiklehrerin staunt über die Neulinge. Was denn ihr Hintergrund sei, fragt sie die beiden. Die erzählen ihren beeindruckenden musikalischen Werdegang und sofort beginnt die Klasse zu tuscheln. Erst versteinern die Mienen der Eliteschüler, die aus wohlhabenden Familien stammen. Dann werfen sie sich empörte Blicke zu. Wollen diese Hergelaufenen uns etwa die Plätze streitig machen? In diesem Moment startet eine Verschwörung, die von kleinen Gemeinheiten über offenen Boykott bis hin zu systematischem Mobbing reicht. Frauen haben am Dirigentenpult nichts zu suchen – das wird Zahia noch öfter hören.
Tatsächlich sind noch heute weltweit nur 6 Prozent aller Dirigierenden weiblich – ein Thema, das auch Regisseur Todd Field in seinem charismatisch-ambivalenten Tár aufgegriffen hat. Aber während Cate Blanchett dort eine zerrissene, vom Konkurrenzdruck in den Zynismus getriebene Stardirigentin verkörpert, geht die französische Regisseurin Marie-Castille Mention-Schaar (Die Schüler der Madame Anne, 2014) einen positiv-lebensbejahenden Weg. Auf der Basis der beeindruckenden Karriere von Zahia und Fettouma Ziouani, die heute Mitte 40 sind und an dem Film mitgewirkt haben, spürt das Musikdrama den Wurzeln der staunenswerten Beharrlichkeit und Widerstandskraft nach, die die beiden Zwillingsschwestern ein Orchester für alle soziale Schichten gründen ließen.
Melodien im Kopf
Für die Kraft der Musik lässt der Film Bilder sprechen. Etwa wenn Zahia nachts allein auf dem Balkon steht und dirigiert – zu einer Musik, die ebenso aus ihrem Kopf wie aus den Tönen der schlafenden Stadt kommt. Oder wenn Stardirigent Sergiu Celibidache, dem Zahia später tatsächlich begegnet, das junge Mädchen erstmals dirigieren sieht. Da scheint die Zeit stillzustehen und der Raum von einem Wunder erfüllt zu werden. Auch dem Maestro geht die Magie zu Herzen, selbst wenn er vorher behauptet hatte: „Dirigieren ist kein Beruf für Frauen“. Nicht nur hier verschmelzen Töne und filmästhetische Mittel zu einem Dur-Akkord, der trotz aller dramatischen Härten und Rückschläge hinaus ins Offene drängt, in die positiven Perspektiven, die sich jenen bieten, die genug Leidenschaft, aber auch genug Fleiß mitbringen. Und wie nebenbei erzählt Divertimento – Ein Orchester für alle auch von den Geheimnissen der großen symphonischen Musik, vom Einswerden des Dirigierenden mit den Musikern und von der Frage, warum gut eingespielte Profi-Instrumentalisten überhaupt eine Leitung am Pult brauchen.
Mit der sich steigernden Emotionalität des ebenso realistischen wie zauberhaften Films verhält es sich so wie mit dem Boléro von Maurice Ravel, der am Ende fast ganz ausgespielt wird. Die Einfühlung und Identifikation beginnt ganz zart und unscheinbar, steigert sich dann kontinuierlich und wird mit jeder Hürde, die sich den beiden in den Weg stellt, ein wenig berührender. Das große Finale endet dann folgerichtig mit wuchtigen Paukenschlägen. Danach kommen im Abspann nur noch die erstaunlichen Fakten, wozu es Zahia und Fettouma, die unzertrennlichen Zwillinge, in der Konkurrenzmaschine der klassischen Musik gebracht haben. Nicht weil sie sich wie Tár angepasst und verhärtet haben, sondern weil sie ihren eigenen, den solidarischen Weg gingen.
OT: „Divertimento“
Land: Frankreich
Jahr: 2022
Regie: Marie-Castille Mention-Schaar
Drehbuch: Clara Bourreau, Marie-Castille Mention-Schaar
Musik: Zahia und Fettouma Ziouani
Kamera: Naomi Amarger
Besetzung: Oulaya Amamra, Lina El Arabi, Niels Arestrup
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