Beim Betreten der Redaktion von Der SPIEGEL wird man als Besucher kurz nach dem Betreten mit dem Zitat „Sagen, was ist.“ von Rudolf Augstein, dem Begründer des Nachrichtenmagazins, konfrontiert. Im Jahr 1961, dem Jahr, aus dem das Zitat stammt, beschrieb Augstein damit die Pflicht des Reporters, eine Wahrheit auszusprechen und der Öffentlichkeit zugänglich zu machen, welche „unter der glatten Oberfläche der Volksmeinung“ schlummert. In jüngster Vergangenheit schmückte das Zitat die SPIEGEL-Ausgabe vom 21. Dezember 2018, aber nicht, weil es ein Jubiläum zu feiern gab, sondern weil die Redaktion dabei war, Schadensbegrenzung und Aufklärung zu leisten. Enthalten in der Ausgabe war eine Entschuldigung an die Leserschaft, hatte doch der Journalist Claas Relotius nachweislich in großem Umfang die Inhalte seiner Texte erfunden.
Die Veröffentlichung dieser Ausgabe konnte jedoch den Schaden, den der Fall Relotius ausgelöst hatte, nicht mehr reduzieren oder kleinreden, denn abgesehen vom Ruf des SPIEGELS wurde generell die Glaubhaftigkeit der Medienlandschaft in Mitleidenschaft gezogen, was all jenen „Lügenpresse“-Rufern naturgemäß in die Hände spielte. Allerdings ist die Aufarbeitung des Falles noch längst nicht abgeschlossen und wird noch viel Zeit in Anspruch nehmen, besonders vor dem Hintergrund, dass es in einer Institution wie dem SPIEGEL nicht auffiel, dass ein solch offensichtlicher Betrug vonstatten ging.
Aufgrund des Versprechens von vollständiger Transparenz hatte Regisseur Daniel Sager eigentlich mit der Kooperation des SPIEGELS bei seiner Arbeit an der Dokumentation über den Fall Relotius gerechnet, doch das Gegenteil war der Fall. Während der Recherche für Erfundene Wahrheit – Die Relotius Affäre, die seit März 2023 auf SKY zu sehen ist, bat er nicht nur den ehemaligen Journalisten selbst, sondern auch viele andere Reporter und Medienvertreter um Interviews und Stellungnahmen, was aber in vielen Fällen abgelehnt wurde oder worauf nicht eingegangen wurde. Schnell wurde Sager und seinem Team klar, dass man einen anderen Weg gehen muss, nämlich mit jenen Menschen, die Relotius durch seine Reportagen und Artikel geschädigt hatte. Neben dem freien Journalist Juan Moreno, der mit seiner Veröffentlichung Tausend Teilen Lüge. Das System Relotius und der deutsche Journalismus bereits einen Teil zur Aufarbeitung des Falles beigetragen hatte, kamen für Erfundene Wahrheit Menschen aus den USA und aus Syrien zu Wort, die Relotius falsch darstellte und deren Ruf er damit angriff.
Narrative und wie sie funktionieren
In erster Linie verfolgt Erfundene Wahrheit den Aufstieg Claas Relotius anhand ausgewählter Texte, welche wiederum illustrieren, wie sehr das Narrativ des Textes von der Wahrheit abweicht. Artikel über eine Kleinstadt im Herzen der USA, einen US-Grenzschützer sowie über den Syrien-Krieg zeigen beispielhaft, wie der Stil des Reporters überzeugend auf seine Vorgesetzten und die Redakteure war, und zugleich, was für ein Schaden angerichtet wurde. Die literarische Qualität der Reportagen, wie bei den Laudatios auf Relotius immer wieder hervorgehoben wurde, deutete bereits auf eine Tatsache hin, die vielen wohl nicht offensichtlich war oder man nicht glauben konnte, nämlich, dass es sich um reine Fiktion handelt.
Insbesondere über Moreno, doch ebenso durch die Gespräche mit anderen Reportern wird dem Zuschauer ein anderer Umstand mehr als deutlich, denn Erfundene Wahrheit deutet zwar auf einen Einzelfall hin, doch verweist ebenso auf das System, welches einen solchen Betrug ermöglichte. Wenn die Schäden nicht so immens wären und die Lügen nicht so dreist, könnte man glatt von einem vergnüglichen Bubenstück reden, von dem Sager hier erzählt.
Jedoch sind es die Gespräche und die Entwicklung des Falles sowie dessen „Aufklärung“ seitens des SPIEGEL, die eine weitere, eine dritte Geschichte erzählen, die noch lange nicht zu Ende ist. Sagers Dokumentation behandelt ein Systemversagen, was so nicht hätte passieren können und vielleicht sogar diejenigen angreift und schädigt, die für die Suche nach der Wahrheit in Ländern wie Russland oder der Türkei ihr Leben riskieren. Zugleich geht es aber auch um die Leser an sich, das Wiederfinden in der Fiktion, die Relotius erstellte, und welche sich auf Bildern und Narrativen stützt, die wir selbst im Kopf haben. Dass Journalismus eben gegen diese Erzählmuster angehen sollte, wie es Augstein in seinem eingangs erwähnten Zitat deutlich machen wollte, versteht sich von selbst (oder sollte es zumindest).
OT: „Erfundene Wahrheit – Die Relotius Affäre“
Land: Deutschland
Jahr: 2023
Regie: Daniel Andreas Sager
Drehbuch: Daniel Andreas Sager
Kamera: Nicolai Mehring
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