Madeleine (Rebecca Marder) hat eine glänzende Zukunft vor sich. Ihre Abschlussarbeit hat sie bereits geschrieben, in der sie linken Idealen folgend Mängel des Systems in Frankreich angreift. Diese teilt sie mit ihrem Freund (Benjamin Lavernhe), der sich so wie sie auf eine Prüfung an der ENA vorbereitet, die Nationale Hochschule für Verwaltung. Als die beiden zuvor aber noch Urlaub auf Korsika machen, wo Antoines Vater Bertrand (Pascal Elso) ein Haus gemietet hat, kommt es zu einem tödlichen Zwischenfall. Die beiden versuchen im Anschluss, diese Erfahrung hinter sich zu lassen und so zu tun, als wäre nichts geschehen. Doch die Geschichte nagt an ihnen und treibt zunehmend einen Keil zwischen die beiden. Selbst als Madeleine für die ehemalige Ministerin Gabrielle Dervaz (Emmanuelle Bercot) arbeitet und sie endlich Karriere macht, wird sie von ihrer Vergangenheit eingeholt …
Gefangene unserer Erinnerungen und Erfahrungen
Dass wir alle von unseren Erfahrungen und damit der Vergangenheit im Allgemein geprägt sind, ist kein Geheimnis. Das Umfeld, in dem wir aufwachsen, die Schulzeit, all das bestimmt auch Jahre später noch mit, wer wir sind. Doch während solche Einflüsse meistens aus vielen kleinen Bestandteilen bestehen, kann es auch vorkommen, dass ein einzelnes Ereignis alles verändert. Von eben einem solchen Fall erzählt der französische Film Grand Expectations. Natürlich hat es Madeleine und Antoine schon vor dem Zwischenfall gegeben, sowohl als Individuen wie auch als Paar. Und es ist auch nicht so, als würde sich alles dadurch ändern. Gerade Madeleine schafft es, trotz der Schwierigkeiten im politischen Umfeld voranzukommen. Es bietet sich die Chance, ihre Ziele, von denen wir zu Beginn des Films erfahren, umzusetzen.
Doch während es ihr gelingt, sich beruflich abzulenken und auf ihre politischen Ziele zu konzentrieren, hat ihre Beziehung großen Schaden genommen. Solche gemeinsamen traumatischen Erfahrungen können Paare zusammenschweißen oder sie eben auseinandertreiben. Das findet sich in Filmen immer mal wieder, etwa beim Verlust des Kindes. Auch Das schönste Paar bietet sich als Vergleich an, das ebenfalls von zwei Menschen und einem schrecklichen Zwischenfall erzählt, der sich während eines Urlaubs zuträgt und sie später in den Alltag verfolgt. Doch während bei den meisten Beispielen das Unglück ein erlittenes ist, kommt bei Grand Expectations das Motiv der Schuld hinzu. Ist es möglich, etwas Derartiges zu tun und danach ein normales Leben weiterzuführen?
Risse in der Fassade
Regisseur und Drehbuchautor Sylvain Desclous hat zumindest seine Zweifel daran, wenn er seine beiden Figuren im Anschluss zunehmend die Kontrolle verlieren lässt. Das ist durchaus spannend, weil lange nicht klar ist, wie weit dies gehen wird und worauf alles hinausläuft. Grand Expectations verbindet dabei ein Psychodrama mit Elementen des Thrillers, wenn den ganzen Film über eine bedrohliche Atmosphäre herrscht. Schon der Zwischenfall selbst dürfte beim Publikum das Nervenkostüm belasten. Später verschiebt sich die Art der Bedrohung, aber es bleibt düster. Und eben tragisch, wenn die zwei zu Gefangenen ihrer Vergangenheit werden und es ihnen nie ganz gelingt, dieser zu entkommen.
Etwas gewöhnungsbedürftig ist, wie der Beitrag vom Filmfest München 2023 diese Geschichte mit dem Kampf für Gerechtigkeit verbunden ist, also mehrere Themen behandelt, die gar nicht zusammengehören. Theoretisch hätte man den Einblick in die Welt der Politik sogar ganz weglassen können. Und doch ist es interessant, wie Grand Expectations bei den beiden durch diesen Vorfall Abgründe freilegt. Zwei Menschen, die sich gerade zu Beginn, aber auch später, für die Schwachen und Übervorteilten einsetzen, können im Zweifel doch auch selbstsüchtig sein. Die strahlende Fassade erhält Risse, die Hässliches freigeben. Damit schafft Desclous eine starke Ambivalenz, wenn man bis zum Schluss nicht genau weiß, was man von diesen Figuren halten soll.
OT: „De grandes espérances“
Land: Frankreich
Jahr: 2023
Regie: Sylvain Desclous
Drehbuch: Sylvain Desclous
Kamera: Julien Hirsch
Besetzung: Rebecca Marder, Benjamin Lavernhe, Emmanuelle Bercot, Marc Barbe, Pascal Elso, Thomas Thévenoud, Cédric Appietto
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