Bevor er das Hotelzimmer verlässt, legt er die teure Uhr in den Safe. So viel weiß Felice (Pierfrancesco Favino) noch von seiner Heimatstadt Neapel und speziell deren Viertel Sanità, in dem er aufwuchs: Es lauert Gefahr in den engen Gassen. 40 Jahre war er nicht mehr hier. Jetzt kehrt er zurück, um seine altersschwache Mutter Teresa (Aurora Quattrocchi) zu besuchen, vielleicht zum letzten Mal. Hals über Kopf musste er vor vier Jahrzehnten das Land verlassen. Mit 15 war er in einen Überfall mit Todesfolge verwickelt, gemeinsam mit seinem Freund Oreste (Tommaso Ragno), der für ihn wie ein Bruder war. Oreste blieb damals in der Stadt und ging den kriminellen Weg weiter, den die beiden eingeschlagen hatten. Es bleiben ja auch kaum andere Möglichkeiten in Neapel, der Hochburg der Camorra. Aber wie wird Oreste den ehemaligen Blutsbruder empfangen? Als lang ersehnten Heimkehrer? Oder als Verräter?
Realismus und Romantik
Um zu erahnen, welche Faszination die alte Heimat auf Felice ausübt, muss man sein Gesicht betrachten. Ehrfürchtig wirkt seine Miene, staunend, sehnsüchtig und ein bisschen ängstlich. Mit langsamen Schritten geht er die alten Wege ab, saugt alles auf: das Knattern der Motorräder, das Gewusel an den Marktständen, das sternengleiche Lichtermeer, wenn er, zurück im Hotel, über die nächtlichen Dächer schaut. An jeder Ecke stürzt die Erinnerung auf ihn herein, und tatsächlich arbeitet der Film mit häufigen Flashbacks, schneidet die heutigen Wege mit denen vor 40 Jahren parallel, an genau denselben Stellen. Die sensible Kamera von Paolo Carnera registriert jedes Detail, mit realistischer Genauigkeit, aber auch mit einem Schuss Romantik. Sie lässt das Publikum genau das spüren, was Felice sieht und empfindet. Man weiß es längst, bevor es ausgesprochen wird: „Du bist wohl nostalgisch“, konstatiert die daheimgebliebene Frau am Telefon. „Es ist noch alles so wie früher“, antwortet Felice, „ich kann es kaum glauben“.
Weder dem Zuschauer noch Felice entgehen dabei die stillen Beobachter. Jugendliche stehen an den Ecken und schauen zu dem Neuankömmling rüber, Motorräder brausen gefährlich nah an ihm vorbei. Ist das Einbildung oder Überwachung? Mit der allgegenwärtigen Gefahr hält der Thrill Einzug in das Drama, das Regisseur und Drehbuchautor Mario Martone bedächtig entfaltet, wie ein analytisches Theaterstück, in denen die Fakten und Wahrheiten nur scheibchenweise ans Licht kommen. Die permanente Spannung erlaubt es, ohne vordergründige Action auszukommen und das Viertel so langsam und allmählich zu erkunden, wie es Felice tut. Schon bald lernen wir den beeindruckenden Priester Don Luigi (Francesco Di Leva) kennen, der seinen Glauben höchst politisch und pragmatisch auslegt: ein kämpferischer Sozialarbeiter, kein weltabgewandter Gottesmann. Der Geistliche holt die Jugendlichen von der Straße, spricht die Sprache der Armen und ist überall gern gesehen. Nur nicht bei den mafiösen Clan-Leuten der Camorra, deren lokaler Chef ausgerechnet Oreste ist, Felices Jugendfreund.
Die Macht der Vergangenheit
Mario Martone ist selbst in Neapel aufgewachsen. Er kann bei seiner Verfilmung des gleichnamigen Romans von Ermanno Rea auf seine eigenen Erlebnisse und Gefühle zurückgreifen. Aber es wäre natürlich zu kurz gegriffen, wenn der Film nicht anschlussfähig wäre an allgemeinere Überlegungen zur Macht der Vergangenheit. Felice hat seinem Namen („Der Glückliche“) alle Ehre gemacht und ist in der Fremde ein anderer geworden: ein sanftmütiger, sensibler Mann, kein gewalttätiger Macho wie sein Jugendfreund. In einer der schönsten Szenen des Films badet Felice mit rührender Zärtlichkeit seine alte Mutter, die sich erst voller Scham dagegen sträubt. Er trägt sie zum Zuber wie die heilige Maria den toten Jesus – auch ein Beispiel für die Verklärungen, die der Film sehr gezielt, aber dezent einsetzt. Nach dem Tod seiner Mutter könnte Felice einfach wieder heimkehren und sein schönes, wohlhabendes Leben in Kairo fortsetzen. Aber von seinen Wurzeln kommt wohl niemand los – das ist es, was dem Film seine universelle Dimension verleiht.
Der Gang durch Vergangenheit und Gegenwart Neapels sei wie der durch ein Labyrinth gewesen, sagt Regisseur Mario Martone über die Dreharbeiten. Darin wird der überragende Hauptdarsteller Pierfrancesco Favino (Il Traditore – Als Kronzeuge gegen die Cosa Nostra, 2019) mit den Stärken und den Schwächen seiner Figur konfrontiert, mit Fehlern und Schuld, aber auch mit dem Versuch der Versöhnung und dem Bewusstsein einer inneren Stärke, die aus der Verarbeitung des Verdrängten erwächst. Felice glaubt, gemeinsam mit Don Luigi auf der Seite des Guten stehen zu können. Dass das eine Illusion bleiben muss, durchschaut er nicht. Dafür war er dann doch zu lange weg.
OT: „Nostalgia“
Land: Italien, Frankreich
Jahr: 2022
Regie: Mario Martone
Drehbuch: Mario Martone, Ippolita Di Majo
Vorlage: Ermanno Rea
Kamera: Paolo Carnera
Besetzung: Pierfrancesco Favino, Francesco Di Leva, Tommaso Ragno, Aurora Quattrocchi, Sofia Essaïdi, Nello Mascia
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