Alte Seegrasspinnerei Film
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Alte Seegrasspinnerei – Ökologisches, soziales und kulturelles Zentrum

Alte Seegrasspinnerei Film
„Alte Seegrasspinnerei“ // Deutschland-Start: 3. August 2023 (Kino)

Inhalt / Kritik

Nürtingen: ein kleines, gemütliches Städtchen mit 42 000 Einwohnern, rund 30 Kilometer südöstlich von Stuttgart. Hier gibt es ein pädagogisches und ökosoziales Kulturzentrum, das jeder Millionenstadt zur Ehre gereichen würde: die „Alte Seegrasspinnerei“. In drei schmucken, unter Denkmalschutz stehenden Gebäuden bietet der „Trägerverein Freies Kinderhaus“ nicht nur kindgerechte Tagesbetreuung und Jugendarbeit an, sondern auch eine Kantine mit täglich über 100 Essen, Kulturveranstaltungen, Arbeit mit Geflüchteten, Kreativwerkstätten und Treffpunkte für jedermann. Man kann gar nicht alle Aktivitäten aufzählen, allein der Jahresbericht des Vereins umfasst 86 Seiten. Umso bewundernswerter ist es, wie Dokumentarfilmer Wolfram Hannemann seinen sinnlichen und informativen Überblick über die Kernanliegen der über 50 Mitarbeiter in knackige 67 Minuten packt.

Kinder haben das Wort

Natürlich gibt es eine Menge Erwachsene, die Sinn und Zweck einer Kulturarbeit erläutern, die jedem und jeder ermöglichen will, die eigenen schöpferischen und zwischenmenschlichen Potenziale zu entdecken und zu erweitern. Trotzdem zählt es zu den schönsten und berührendsten Momenten des Films, wenn die Kinder selbst ihre Stimme erheben. Sie zeigen dem Publikum die Räumlichkeiten, erklären, was man hier machen kann, und was ihnen daran gefällt. Der Film setzt damit eine zentrale Vision der Zentrumsgründer um. Hier sollen Kinder und Jugendliche einen Freiraum finden, den sie selbst nach ihren Wünschen gestalten können – und in dem sie allererst entdecken, was ihnen wichtig ist, frei von den Vorgaben der Schule, des Elternhauses und des sozialen Umfeldes.

Entstanden ist der Verein 1985 als Kinderbetreuungsinitiative von Eltern, die ihren Kleinen mehr bieten wollten als die vorhandenen Kindergärten und Tagesstätten. Auf der Suche nach Räumlichkeiten stießen die Gründungsmitglieder Julia Rieger und Pit Lohse, die auch heute noch als Geschäftsführer dabei sind, auf ein zentral gelegenes Areal, das von der Post gepachtet war, aber von ihr nicht genutzt wurde. Der Deal damals: Überlassung der denkmalgeschützten Räumlichkeiten gegen Renovierung und Instandhaltung. Schon bald nach den Betreuungsangeboten gab es auch die „Kinderkulturwerkstatt“, ein offenes Angebot für alle Kinder der Stadt, geleitet von Kunsttherapeuten, denen es auf eine Kreativität ankommt, die von innen heraus entsteht. Sie vermeiden Vorgaben, geben aber alle Hilfen und stellen diverse Materialen zu Verfügung, um Ideen und Wünsche der Kinder in die Tat umzusetzen.

Wolfram Hannemann (Kultourhelden – Vom Ende einer Ära, 2021), der auch als Filmkritiker tätig ist, legt den Akzent auf die Kernbotschaften des ungeheuer vielfältigen Begegnungszentrums. Dabei vermeidet er ein Übergewicht der Wortbeiträge und setzt visuell ansprechende Gegenakzente mit Luftaufnahmen, Montagesequenzen oder Zeitraffern. So entsteht ein buntes und zugleich klar strukturiertes Bild von dem, was Nürtingens Oberbürgermeister Johannes Fridrich als Alleinstellungsmerkmal und Mehrwert für seine Stadt ansieht: Ein Zentrum, das „Vergnügliches und Sinnhaftes“ miteinander vereine.

Die Geschichte vom Punker

Der Film versammelt eine Menge von Stimmen, die erzählen, was die Alte Seegrasspinnerei für sie selbst in jungen Jahren oder für ihre Kinder bedeutet hat. Mit dabei sind Stadträte verschiedener Parteien, viele Geschäftsleute und sogar der ehemalige Landesumweltminister Franz Untersteller, der seine Kinder dorthin schickte. Er sagt den bemerkenswerten Satz: „Viele zehren heute noch von diesen Erfahrungen, auch wenn sie es gar nicht merken“. Die plastischste Geschichte dazu erzählt Mitgründer Pit Lohse. Sie handelt von einem Punker, dem man wegen kleiner Straftaten ständig hunderte Stunden von gemeinnütziger Arbeit aufbrummte. Irgendwann schickte ihn die ratlose Jugendgerichtshilfe in die Seegrasspinnerei. Weil man ihm dort auf Augenhöhe begegnete, fühlte er sich wohl, entwickelte handwerkliche Fähigkeiten und entdeckte seine Freude am Gipsen. Irgendwann leitete er sogar andere Leuten bei der Arbeit an. Das tat er nicht auf Aufforderung, sondern weil für ihn die Zeit reif war, einen neuen Schritt in der Persönlichkeitsentfaltung zu wagen. Raum und Zeit geben sind für Pit Lohse Kernpunkte der Seegras-Philosophie.

Der Film verschweigt nicht, dass er vom Trägerverein des ökosozialen Kulturzentrums mitproduziert wurde und man somit vom Filmemacher keine unparteiische Haltung erwarten darf. Aber er ist alles andere als eine lieblose Auftragsarbeit. Das Herzblut, mit dem gedreht und geschnitten wurde, spürt man in jeder Einstellung. Und warum soll ein Filmemacher keine Sympathie zeigen für ein Projekt, das als Leuchtturm sein Licht längst über die Stadt und die Region hinaus strahlen lässt? Im Übrigen kommt der Film genau zur richtigen Zeit. 2026 läuft der Pachtvertrag für die drei denkmalgeschützten Häuser aus. Die Alte Seegrasspinnerei muss vielleicht nicht nur Räume suchen, sondern auch den Generationswechsel schaffen. Die Geschäftsführer und eine Reihe von Aktiven sind von Anfang an dabei. Also seit fast 40 Jahren.

Credits

OT: „Alte Seegrasspinnerei“
Land: Deutschland
Jahr: 2023
Regie: Wolfram Hannemann
Drehbuch: Wolfram Hannemann
Musik: Robert Berger
Kamera: Hans-Joachim Pulli, Wolfram Hannemann, Lukas Kindermann

Bilder

Trailer

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fazit
Ein ökosoziales Kulturzentrum als Leuchtturm für die Region und weit darüber hinaus: Filmkritiker und Dokumentarfilmer Wolfram Hannemann beleuchtet in sinnlichen und informativen Bildern, was die „Alte Seegrasspinnerei“ im schwäbischen Nürtingen so besonders macht.
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