Boris Kunz
Im Netflix-Thriller "Paradise" erzählt Regisseur Boris Kunz von einer Welt, in der die Menschen ihre Lebenszeit übertragen können.

Boris Kunz [Interview]

Stell dir vor, du könntest deine Lebenszeit einfach auf andere übertragen. In dem Thriller Paradise (ab 27. Juli 2023 auf Netflix) ist diese Möglichkeit wahr geworden. Wer es sich leisten kann, kauft anderen einfach ihre Jugend ab. Doch ist das jetzt ein Segen oder ein Fluch? Für Max (Kostja Ullmann) und seine Frau Elena (Marlene Tanzcik) ist es auf jeden Fall Letzteres, als ein tragischer Zwischenfall sie dazu zwingt, dass Elena 40 Jahre bezahlen muss und auf einmal eine alte Frau ist (jetzt: Corinna Kirchhoff). Der Film folgt den beiden, wie sie versuchen, mit dieser neuen Situation klarzukommen, was sie zu verzweifelten Taten verleitet. Wir haben uns bei der Premiere auf dem Filmfest München mit Regisseur Boris Kunz getroffen. Im Interview sprechen wir über die Entwicklung des Films, die moralische Seite solcher Tauschgeschäfte und wie er selbst in der Situation reagieren würde.

 

Könntest du uns etwas über die Entwicklung von Paradise erzählen? Wie bist du zu dem Projekt gekommen?

Entwickelt wurde das Projekt vom Produzenten Simon Amberger von NEUESUPER, ich bin erst später dazu gekommen. Eine Idee, die sie damals hatten: Kann man das Konzept der Zeitdiebe aus Michael Endes „Momo“ noch einmal anders denken als in dem märchenhaften Kontext des Kinderbuches? Am Anfang sollte das eine Art Actionthriller werden. Die ersten Entwürfe dafür habe ich 2023 gelesen. Da war ich eine Zeit lang mit in der Entwicklung. Später wurde die Geschichte von Simon und dem Drehbuchautor Peter Kocyla in eine ganz andere Richtung getrieben und es wurde mehr ein Figurendrama draus, in dem es um das Ehepaar Max und Elena ging. Damit kamen sie wieder auf mich zu und auf Netflix. Das war Anfang 2020. Danach haben wir das Buch gemeinsam noch einmal überarbeitet. Es war also ein ziemlich langer Prozess.

Was hat dich denn an dem Projekt interessiert, dass du überhaupt mitmachen wolltest?

Ich mochte einfach das Konzept. Dieses Dilemma der beiden Hauptfiguren, wie es sich in der späteren Fassung herauskristallisiert hat, hat mich gepackt. Da war ich total drin und habe mit den Figuren mitgelitten. Gleichzeitig ist es eine Geschichte, die in verschiedene Richtungen zum Denken anregt. Die Auswirkungen, die eine solche Technologie auf die Gesellschaft hat, darüber kannst du dir die verschiedensten Gedanken machen. Was macht das mit reichen Menschen? Was macht es mit armen Menschen? Wie gehen Menschen damit um, die ihr Leben verlängert haben oder umgekehrt, deren Leben verkürzt wurde? Das war dann letztendlich auch das, was mich gereizt hat, dass man über diese Schicksalsgeschichte hinaus so viele Themen hat. Was wir in Paradise erzählen, ist ein übersteigertes Porträt unserer aktuellen Gesellschaft. Ein dritter Punkt, der mich interessiert hat: Es ist natürlich wahnsinnig spannend, in Deutschland einen Near-Future-Film drehen zu dürfen. Das hast du bei uns einfach selten.

In eurem Film erzählt ihr, wie Menschen anderen ihre Lebenszeit geben und dafür etwas erhalten. Euer Beispiel ist dabei ein negatives. Aber wäre ein solches Tauschgeschäft per se negativ, gesetzt den Fall, es handele sich um ein wirklich freiwilliges Tauschgeschäft?

Wir haben versucht, am Anfang der Geschichte auch die positiven Aspekte herauszuarbeiten – und das nicht nur für die einzelnen Nutznießer, sondern auch für die Gesellschaft. Wäre es nicht toll, wenn Mozart sehr viel länger gelebt hätte? Davon hätten wir ja alle in gewisser Weise profitiert. Das Problem fängt aber da an, wo etwas, das einem gegeben wird, einem anderen genommen wird. Wenn man anfängt, verschiedenen Menschen einen verschiedenen Wert beizumessen, finde ich das ganz schwierig. Ist ein Mozart mehr wert als andere? Damit ein solches Tauschgeschäft positiv sein kann, müsste das Geld oder das, was ich für diese Lebenszeit bekomme, wirklich so viel wert sein wie die Lebenszeit selbst. Wenn jemand durch dieses Geld seinen Lebenstraum erfüllen kann und es wirklich keine andere Möglichkeit dafür gibt, dann geht das vielleicht. Wenn wirklich beide Seiten durch dieses Geschäft glücklicher sind – meinetwegen. Ich will da niemandem vorschreiben, wie er oder sie glücklich ist. Persönlich glaube ich aber nicht daran, eine Seite ist da für mich immer im Nachteil.

Dass wir für Geld unsere Lebenszeit hergeben, ist dabei aber kein unbekanntes Konzept. Wenn wir für andere arbeiten, machen wir das auch, nur über einen sehr viel längeren Abschnitt hinweg. Wo liegt der Unterschied, ob wir zehn Jahre über unser Leben hinweg hergeben oder wir es auf einen Schlag tun?

Das ist eine sehr gute Frage. Wenn jemand in Afrika in Minen nach seltenen Erden suchen muss, würde der nicht lieber diese schreckliche Zeit einfach überspringen und das Geld dafür kriegen? Der Unterschied ist natürlich, was dir an Erfahrung verloren geht. An gelebter Lebenszeit. Denn selbst während du arbeitest, lebst du ja und erlebst etwas. Das fehlt dann auf einmal völlig. Selbst wenn die Zeit nicht schön ist, ist das etwas, das dich prägt und dich ausmacht. Und bei den meisten Menschen ist das Leben nicht nur schrecklich. Wer in der Mine arbeitet, hat vielleicht eine Familie und hat schöne Momente mit ihr. Das würdest du auch weggeben, weil du nicht selektiv einfach nur die hässlichen Stunden hergibst und die schönen behältst.

Die meisten werden sich beim Anschauen von Paradise fragen, ob sie das selbst machen würden, sei als Geber oder Nehmer. Hast du für dich selbst eine Antwort gefunden?

Wenn ich mir diese Zeit nicht von jemand anderem holen müsste, sondern mich selbst verjüngen kann, wie man das gerade in der Forschung untersucht, wäre ich sehr versucht. Vermutlich würde ich es mir niemals leisten können. Aber reizen würde es mich natürlich. Um meine eigene Lebenszeit herzugeben, müsste ich schon wirklich sehr viel dafür bekommen. Lebenszeit ist einfach sehr kostbar. Je älter man wird, desto stärker merkt man das.

Nehmen wir mal an, du würdest zehn Jahre geschenkt bekommen. Was würdest du damit anfangen?

Ich würde so weitermachen wie bisher und einfach noch mehr Filme drehen. Ich bin gerade wirklich in einer sehr komfortablen Lage und darf an vielen unterschiedlichen spannenden Projekten arbeiten. Dafür mehr Zeit zu haben, wäre toll.

Also keine Weltreise, wenn du die Zeit schon geschenkt bekommst? Das ist ja der Traum von vielen.

Ich hoffe, dass ich die auch so noch hinbekomme.

Hast du für dich durch die Beschäftigung mit den Themen etwas für dich selbst herausgenommen im Hinblick auf dein eigenes Altern?

Ich habe tatsächlich ein gewisses Bewusstsein dafür entwickelt, was da alles auf einen zukommt. Dass man sich da nichts vormachen muss. Aber auch, dass man eigentlich entspannt damit umgehen kann, weil man es sowieso akzeptieren muss. So läuft es nun mal. Du kannst nur das Beste aus der Zeit machen, die du hast. Es bringt nichts, dem Alter davonlaufen zu wollen.

Grundsätzlich funktioniert ein solcher Zeittausch unabhängig vom Geschlecht. In Paradise sind es zwei Frauen, die diesen Tausch eingehen. War das jetzt Zufall oder war das für euch mit einer Aussage verbunden?

Bei den Hauptfiguren ist es kein Zufall, da war es sehr bewusst gewählt. In unserer Gesellschaft ist das für Frauen noch immer ein größeres Thema als für Männer. Es gab aber auch bei einer früheren Fassung des Drehbuchs, das noch etwas ausufernder war, männliche Figuren, um noch mehr Aspekte einbauen zu können. Wir haben aber letztendlich einiges wieder streichen müssen, weil es einfach zu viel für einen einzelnen Film geworden wäre. Es wäre alles zu lang geworden.

Man hätte aber auch eine Serie draus machen können. War das je für euch ein Thema?

Wir haben irgendwann schon gemerkt, dass man über diese Zukunft sehr viel erzählen könnte und dass es noch sehr viel mehr Aspekte drumherum gibt, Aber wir hatten uns dafür entschieden, diese Geschichte mit Max und Elena im Fokus zu erzählen und nah an dieser Figurenkonstellation bleiben zu wollen. Und das ließ sich als Film stringenter erzählen.

Denkt ihr denn darüber nach, noch weitere Geschichten aus diesem Szenario zu erzählen? Paradise endet so, dass da auf jeden noch etwas folgen könnte.

Absolut, ja. Wir haben bei der ganzen Arbeit an dem Film gemerkt, dass uns immer mehr Ideen kommen, wie man das alles noch erweitern kann. Da ist also noch sehr viel mehr möglich. Jetzt sind wir aber erst einmal froh und dankbar, dass wir diese Geschichte erzählen durften.

Vielen Dank für das Gespräch!

Zur Person
Boris Kunz wurde 1979 geboren.  Von 2004 bis 2012 studierte er Regie an der HFF München und drehte dabei die Tragikomödie Daniels Asche auf sich aufmerksam. Sein Abschlussfilm Drei Stunden feierte 2012 bei den Hofer Filmtagen Premiere. Nach Abschluss des Studiums arbeitete Kunz als Autor und dramaturgischer Berater an verschiedenen Film- und Serienstoffen, unter anderem 8 Tage und Breaking Even.



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