Skrupel sind Charlie Babbitt (Tom Cruise) ebenso fremd wie Mitgefühl. Der Autoverkäufer ist mehr oder weniger zu allem bereit, was ihm persönliche Vorteile bringt. Und doch hält sich sein Erfolg eher in Grenzen, das Geschäft läuft schleppend. Als er vom Tod seines Vaters erfährt, zu dem er seit Jahren bereits keinen Kontakt mehr hatte, hält sich seine Trauer in Grenzen. Vielleicht erbt er dafür etwas Schönes, so die Hoffnung. Die zerschlägt sich jedoch bei der Testamentseröffnung. Zwar bekommt Charlie ein Auto und Rosenbüsche. Doch ein Großteil des Familienvermögens soll ein Vormund für einen Unbekannten verwalten. Als der Geprellte mit seiner Freundin Susanna (Valeria Golino) der Sache nachgeht, macht er eine schockierende Entdeckung: Er hat einen Bruder! Raymond (Dustin Hoffman) ist älter, lebt in einem Heim und hat Autismus – und die drei Millionen US-Dollar, die Charlie gern hätte. Um irgendwie an das Vermögen zu kommen, entführt er Ray und will versuchen, selbst die Vormundschaft zu bekommen …
Autismus als Kassenschlager
Auch wenn der Begriff Autismus inzwischen mehr als hundert Jahre alt ist, wissen viele nur bedingt, etwas mit dieser Störung anzufangen. Ein Grund ist, dass vergleichsweise selten darüber gesprochen wird. So gab es zwar die Netflix-Serie Atypical, die sich um die Liebessuche eines autistischen Jugendlichen dreht. Aber das ist die Ausnahme, autistische Menschen sind nur selten in Filmen und Serien zu sehen. Und wenn sie dort auftauchen, entsprechen sie dem beliebten Klischee, das Zwangsstörungen und eine Inselbegabung miteinander koppelt. Dass es dieses Klischee gibt, geht maßgeblich auch auf Rain Man zurück, welches dieses 1988 zeigte und damit zu einem überraschenden Blockbuster wurde. Bei einem Budget von 25 Millionen US-Dollar sollen die Einspielergebnisse am Ende zwischen 350 und 400 Millionen gelegen haben. Dazu gab es gleich vier Oscars, darunter den für den besten Film des Jahres.
An der nuancenreichen Figurenzeichnung lag die große Resonanz sicher nicht. Während sich Ray durch die besagte Kopplung definiert, gleichzeitig ein Gefangener seiner Gewohnheiten zu sein, dabei jedoch ein mathematisches Genie, hat das Drehbuchduo Ronald Bass und Barry Morrow über die anderen nicht wirklich etwas zu sagen. Klar darf Charlie eine Wandlung durchmachen, vom skrupellosen Egoisten hin zum liebevollen Bruder. Aber auch das entspricht einem Klischee, Hollywood liebt einfach solche Läuterungsdramen, in denen die Hauptfigur am Ende ein besserer Mensch geworden ist. Die übrigen Leute in Rain Man sind ohnehin nur ein Mittel zum Zweck. Allenfalls Susanna bekommt eine größere Bedeutung. Man hätte sie aber auch mehr oder weniger streichen können, da sie kaum Impulse setzt. Hinzu kommt, dass der Film nie wirklich begreifbar macht, was genau sie eigentlich an Charlie findet. Für sich genommen ist ihre Figur ebenfalls mäßig interessant.
Unterhaltsam und bewegend
Aber auch wenn es an diesen Stellen gern mehr Tiefgang und Nuancen hätte geben dürfen, sind doch die Figuren bzw. deren Darstellungen bis heute ein guter Grund, warum man sich den Film anschauen kann. Wenn die beiden so grundverschiedenen Brüder mit der Zeit lernen, eigene Grenzen zu überschreiten und sich einander anzunähern, kann man noch so sehr auf die Konventionen verweisen: Es funktioniert, ist schön, tut gut. Ohne sich in Kitsch zu stürzen, erzählt Regisseur Barry Levinson (Good Morning, Vietnam) in Rain Man eine zu Herzen gehende Geschichte über eine Familie, die viel Unglück durchmachte, sich dabei fremd geworden ist und doch zum Schluss noch einmal eine Chance bekommt zueinander zu finden. Die Welt wird dadurch vielleicht nicht besser, aber doch ein wenig schöner.
Hinzu kommt ein beträchtlicher Unterhaltungsfaktor. Zwar ist Rain Man offiziell ein Drama und erzählt ernste Geschichten. Doch die Familienaufarbeitung wird mit einem Roadmovie und gelegentlichen humorvollen Szenen verknüpft. So geht die innere Reise der beiden mit einer äußeren einher. Dabei dürfen sie die unterschiedlichsten Menschen kennenlernen und eigenwillige Erfahrungen machen. Legendär ist der Abstecher zu den Casinos, wenn die Inselbegabung von Ray zu Geld gemacht werden soll. Andere Szenen, wenn Charlie irgendwie einen Fernseher organisieren muss, damit sein Bruder seine Pflichtshow sehen kann, präsentieren die Zwangsstörungen mit einem gewissen Augenzwinkern. Das ist nach wie vor sehenswert, zudem natürlich stark gespielt, selbst wenn das Plädoyer für mehr Offenheit heute mit der einen oder anderen Fußnote versehen werden muss.
OT: „Rain Man“
Land: USA
Jahr: 1988
Regie: Barry Levinson
Drehbuch: Ronald Bass, Barry Morrow
Musik: Hans Zimmer
Kamera: John Seale
Besetzung: Dustin Hoffman, Tom Cruise, Valeria Golino, Gerald R. Molen
Preis | Jahr | Kategorie | Ergebnis | |
---|---|---|---|---|
Academy Awards | 1989 | Bester Film | Sieg | |
Beste Regie | Barry Levinson | Sieg | ||
Bester Hauptdarsteller | Dustin Hoffman | Sieg | ||
Bestes Original-Drehbuch | Ronald Bass, Barry Morrow | Sieg | ||
Beste Musik | Hans Zimmer | Nominiert | ||
Beste Kamera | John Seale | Nominiert | ||
Bestes Szenenbild | Ida Random, Linda DeScenna | Nominiert | ||
Bester Schnitt | Stu Linder | Nominiert | ||
BAFTA | 1990 | Bester Hauptdarsteller | Dustin Hoffman | Nominiert |
Bestes Original-Drehbuch | Ronald Bass, Barry Morrow | Nominiert | ||
Bester Schnitt | Stu Linder | Nominiert | ||
Berlinale | 1989 | Goldener Bär | Sieg | |
César | 1989 | Bester ausländischer Film | Nominiert | |
Golden Globes | 1989 | Bester Film (Drama) | Sieg | |
Beste Regie | Barry Levinson | Nominiert | ||
Bester Hauptdarsteller (Drama) | Dustin Hoffman | Sieg | ||
Bestes Drehbuch | Ronald Bass, Barry Morrow | Nominiert |
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