Im Prinzip lässt sich über alles, was irgendwie existiert, existiert hat oder existieren wird, eine Dokumentation drehen. Dokumentarfilmer wie Volker Koepp (Gehen und Bleiben) oder Sebastian Dehnhardt (Klitschko) zum Beispiel fokussieren sich dabei im weitesten Sinne auf Deutschland und seine Geschichte. Andere ziehen von Thema zu Thema durch die ganze Welt, ohne dass sich ein roter Faden in ihrer Filmographie identifizieren lässt. Es ist jedoch keine Notwendigkeit, (sinnbildlich) das eigene Haus zu verlassen, da sich manche Sujets in nächster Nähe befinden. Das gab es natürlich schon wesentlich früher, aber gerade das Jahr 2022 erwies sich als besonders fruchtbar in dieser Hinsicht. Am 18. Oktober feierten gleich drei Dokus Premiere auf der DOK Leipzig, bei welchen sich die jeweiligen Regisseure mit ihren eigenen Verwandten beschäftigten. In Blauer Himmel weiße Wolken nahm Astrid Menzel ihre demenzkranke Großmutter mit auf eine Kanutour. In König hört auf portraitierte Tilman König seinen Vater, einen Jenaer Pfarrer, der sich sehr für die Gemeinde einsetzte.
Die toten Vögel sind oben von Sönje Storm unterscheidet sich vornehmlich dadurch von den beiden anderen, dass ihr Urgroßvater nicht selbst im Film auftritt. Jürgen Friedrich Marth wurde 1882 geboren und starb 1940. Während im Laufe der Doku stationenartig eine grobe Biographie nachgezeichnet wird, steht weniger er als Person im Mittelpunkt. Der Fokus ist eher auf seine Arbeit gerichtet. In eine Bauernfamilie hineingeboren, konnte er sich nie sonderlich für die Landwirtschaft erwärmen – als sein Sohn 18 Jahre alt wird, überlässt er ihm den Hof und wendet sich endgültig davon ab. Marth selbst fühlte sich immer zur Tier- und Pflanzenwelt hingezogen. Zeichnungen aus seiner Kindheit zeugen nicht nur von einer künstlerischen Begabung, sondern offenbaren auch seine Auge für die genauen Details zum Beispiel eines Gänsegeiers.
Auf den Spuren eines Naturkundlers und Fotografen
Als Erwachsener präparierte er Tiere und mauserte sich zum Naturkundler und Fotograf. Insbesondere seine Fotografien sind es, die in Die toten Vögel sind oben das Interesse auf sich ziehen. Manche der Bilder scheinen im perfekten Moment geschossen worden zu sein, als wären sie das Ergebnis stundenlangen Wartens. Gelungene Szenen in Tierfilmen wie Überleben im Paradies: Eine Familiengeschichte sind fast immer davon abhängig, zur richtigen Zeit am richtigen Ort zu sein. Ein Film ist nichts anderes als die Aneinanderreihung etlicher Bilder; jedes Einzelbild für sich ist dabei unbewegt, der im Idealfall flüssige Übergang zwischen ihnen sorgt in den Augen des Zuschauers durch das Daumenkinoprinzip dafür, dass es selbst nicht mehr als solches wahrnehmbar ist. Für einen Filmemacher ist das Fenster für die richtige Zeit also deutlich größer, da er überflüssiges Material vor und nach dem entscheidenden Moment einfach wegschneiden kann.
Marth war jedoch keineswegs schlicht der größte Glückspilz in der Geschichte der Naturfotografie. Einem Regisseur gleich platzierte er seine präparierten „Schauspieler“ in der Szenerie, um die Motive festzuhalten, die er sich vorstellte. Nicht nur die Fotos, auch ausgestopfte Tiere und festgesteckte Schmetterlinge gehören zum Nachlass von Marth. Viele von letzteren sind mittlerweile ausgestorben, auch weil ihre Lebensräume gar nicht mehr so existieren wie früher. Diese de facto Zeitdokumente sind – auch dank der Dreharbeiten, wie Storm betont – nun in fachkundigen Händen und bereichern ein Hamburger Museum.
Eine sachlich gehaltene Diashow
Das Voiceover für Die toten Vögel sind oben stammt von der Regisseurin selbst. Das ist aufgrund der familiären Bande verständlich, aber Storm ist nun einmal keine professionelle Sprecherin. Da der Text insgesamt sowieso eher sachlich gehalten ist, wäre es vielleicht die bessere Wahl gewesen, ihn jemand anderem zu überlassen. Aufgrund der vielen (fraglos beeindruckenden) Fotografien fühlt sich die Doku stellenweise auch eher wie eine Diashow an. Die Musik lässt das Ganze zuweilen auch etwas zu kunstbeflissen wirken.
Nicht alle, die hier zu Wort kommen, werden namentlich identifiziert. Storms eigener Vater beispielsweise bleibt anonym, obwohl es das einzige Interview ist, in welchem die Regisseurin selbst zu sehen ist. Das ist besonders deshalb seltsam, da Hans Hermann Storm den Nachlass Marths Mitte der 1980er-Jahre überhaupt erst wiederentdeckte (was hier auch andeutungsweise zur Sprache kommt). Mit knapp 85 Minuten Laufzeit hat Die toten Vögel sind oben eine angenehme Laufzeit. Es wäre definitiv viel zu harsch, sie als „belanglos“ zu bezeichnen, aber dadurch, dass viele Aspekte eher oberflächlich behandelt werden, fehlt nach der Sichtung doch so etwas wie ein richtiger Payoff.
OT: „Die toten Vögel sind oben“
Land: Deutschland
Jahr: 2022
Regie: Sönje Storm
Drehbuch: Sönje Storm
Musik: Dominik Eulberg, Bertram Denzel, Henry Reyels
Kamera: Alexander Gheorghiu
DOK Leipzig 2022
Nordische Filmtage Lübeck 2022
achtung berlin 2023
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