Vilas Shah, Julian Weiß, Maxime Cruiziat und Sylvain Cruiziat bei der Premiere von "Boyz" beim Filmfest München 2023 (© Filmfest München / Ronny Heine)

Sylvain Cruiziat / Maxime Cruiziat [Interview]

Der deutsch-französische Filmemacher Sylvain Cruiziat wurde 1995 geboren. 2014 nahm er sein Studium an der Hochschule für Film und Fernsehen in München auf. Mit dem Dokumentarfilm Boyz legt er nun seinen Abschlussfilm vor. Darin zeigt er seinen jüngeren Bruder Maxime und dessen Freunde Julian und Vilas während der Zeit, als alle drei in München studieren. Der Film ist ein stellenweise intimes Porträt von Freundschaft und männlichen Rollenbildern, die sich über die Zeit stark gewandelt haben. Nach seiner Premiere beim Filmfest München 2023 wird der Film nun auch auf dem Fünf Seen Filmfestival gezeigt. Wir haben uns im Rahmen des Filmfest München mit Sylvain und Maxime zum Interview getroffen.

Im Film wird sowohl Englisch als auch Deutsch gesprochen, deshalb interessiert mich euer Hintergrund. Wenn ich es richtig verstanden habe, seid ihr beide in London aufgewachsen und dann später nach München gekommen, oder?

Sylvain: Genau, wir sind beide in London geboren und dort aufgewachsen – mit ein paar Zwischenstationen woanders auf der Welt. Wir haben beide an der deutschen Schule in London Abitur gemacht. 2014 bin ich dann für das Studium an der Filmhochschule nach München gezogen.

Maxime: Ich bin 2019 nach München in Sylvains WG gezogen. Das war einer der Gründe dafür, warum ich auch nach München gekommen bin. Dann habe ich angefangen, hier an der Technischen Universität zu studieren.

Sind denn Vilas und Julian, die anderen beiden Hauptprotagonisten im Film, damals zufällig zur selben Zeit wie du nach München gekommen?

Maxime: Die beiden sind ein Jahr später gekommen. Sie haben beide erst ein Gap Year eingelegt und waren danach Teil einer großen Gruppe an ehemaligen Schülern der deutschen Schule in London, die sich hier in München wiedergefunden hat.

Sylvain: Die meisten Absolventen von dort gehen nach dem Abitur nach Deutschland. München ist dabei besonders beliebt, natürlich auch wegen den Universitäten.

Sylvain, du hast an der Hochschule für Film und Fernsehen in München Dokumentarfilm studiert. Als es darum ging, deinen Abschlussfilm zu drehen, hast du da erst lange nach einem Thema gesucht und dir schließlich aus Mangel an Alternativen gedacht, „Ok, dann drehe ich halt was über meinen Bruder!“. Oder wie lief dieser Prozess ab?

Sylvain: Ich war damals gerade dabei, mehrere Projekte zu entwickeln, unter anderem auch ein fiktionales, mit dem ich mein Studium abschließen wollte. Boyz hat sich ganz organisch entwickelt. Ich hatte mal einen Testdreh für einen Spielfilm gemacht, bei dem ich Maxime und Vilas vor die Kamera geholt hatte. Dabei haben mein Kameramann, Nikolai Huber, und ich gemerkt, dass mit den beiden vor der Kamera viel spannendere Dinge passieren, als wir geschrieben hatten. Außerdem haben Maxime und ich während der Covid-Zeit zusammengewohnt. Julian und Vilas waren da oft zu Besuch. Es gab ein Osterwochenende, bei dem wir wegen der Omikron-Variante nicht nach London zurückgehen konnten und wir haben dann hier als „Londoner Clique“ Ostern gefeiert. Dabei konnte ich die anderen viel beobachten und habe mit meinem Altersabstand von sieben oder acht Jahren in ihnen sehr viel von dem wiedergefunden, was ich in ihrem Alter auch erlebt habe – besonders, was die Suche nach dem weiteren Lebensweg betrifft. Ich fand es sehr spannend, wie die Jungs damit anders umgegangen sind, als ich und meine Freundesgruppe das damals in ihrem Alter getan haben. Auf diese Weise ist langsam die Idee für den Film entstanden. Mit dem Produzenten, Jonas Egert, habe ich außerdem viel über Männlichkeit geredet. Wir haben dann einfach eine Kamera genommen, angefangen zu recherchieren und so hat sich der Film ganz organisch ergeben.

Es ist interessant, dass du zwischen dir und deinem Bruder sowie zwischen euren jeweiligen Freundeskreisen einen deutlichen Unterschied im Umgang miteinander feststellst. Hat sich in diesen sieben oder acht Jahren, die zwischen euch liegen, diesbezüglich so viel verändert? Oder liegt das einfach an den unterschiedlichen Freundeskreisen, die Maxime und du haben?

Sylvain: Die Gruppe an Freunden um Maxime hat sicher ihren Teil dazu beigetragen. Die kennen sich ja schon seit der Grundschule. Aber es dürfte sich zum Teil auch um eine Generationenfrage handeln. Bei mir war damals das männliche Rollenbild viel weniger fluid. Es war viel mehr festgelegt, wie ein Mann zu sein hat. Da gab es auch einen sehr starken performativen Druck, insbesondere um Themen wie Sex und Liebe und die Unsicherheiten, die damit zusammenhängen. Wie die Freunde mit diesen Themen umgehen und auch mit der Tatsache, dass Maxime Jungfrau ist, erschien mir sehr progressiv.

Im Film wird sehr offen über Sexualität und Beziehungen geredet. Macht es dir keine Sorgen, Maxime, dass das nun vor deiner Familie und deinen Freunden komplett offengelegt ist und sie sich das alle anschauen können?

Maxime: Vor dem Screening des Films, das wir Anfang des Jahres für Freunde und Familie hatten, was ich ziemlich nervös. Aber bei der Premiere auf dem Filmfest München war ich noch nervöser, weil ich das Gefühl hatte, dass jetzt Leute in mein Leben hereinschauen, die ich überhaupt nicht kenne. Das ging also nochmal einen Schritt weiter. Im Endeffekt bin ich aber vollkommen zufrieden damit, wie Sylvain mich im Film präsentiert.

Sylvain: Es war Maxime schon wichtig, auch seine verletzliche Seite zu zeigen und zum Beispiel auch anderen jungen Leuten in gewisser Weise Mut zu machen, sich ebenso zu zeigen. Und zu zeigen, dass man im Rahmen von Freundschaft solche Themen offen besprechen kann.

Maxime: Darin besteht auch ein großer Unterschied zu dir, Sylvain, als du im gleichen Alter warst. Du hattest damals das Gefühl, deinen Freunden etwas beweisen zu müssen und konntest nicht so offen mit solchen persönlichen Themen umgehen. Es gibt an einer Stelle im Film dieses Interview, wo ich auf dem Bett liege und Sylvain mir Fragen stellt. Dabei öffnet er sich selbst, weil er meine Situation mit seiner eigenen vergleicht. Im Gegensatz zu mir hat er sich ganz schön unter Druck gesetzt gefühlt, als er in meinem Alter war.

Boyz
Szenenbild aus dem Dokumentarfilm „Boyz“ (© madfilms Cruiziat & Egert GbR)

In der zweiten Szene des Films liegst du mit Vilas und Julian kuschelnd im Bett. Als ich das gesehen habe, habe ich zuerst gar nicht glauben können, dass ihr das wirklich tut. Außerdem war ich neidisch auf euch, weil ich mit meinen männlichen Freunden nicht einen solchen engen Umgang habe – weder heute, noch als ich in deinem Alter war. Ist dieser auch körperlich enge Umgang unter euch normal, kuschelt ihr regelmäßig miteinander?

Maxime: Wir verabreden uns nicht zum Kuscheln, aber es passiert halt manchmal. Zum Beispiel, wenn wir alle zusammen auf dem Sofa sitzen und nicht viel Platz haben. Wir haben miteinander einen so offenen Umgang, dass wir das einfach machen können. Da machen wir uns keine Gedanken darüber. Ich kenne aber auch Leute, die das mit ihren Freunden nicht machen würden. Aber wir sind eben anders aufgewachsen.

Dabei kommt euch sicher zugute, dass ihr euch schon seit eurer Kindheit kennt.

Maxime: Genau. Aber bei all dem schwingt manchmal auch ein spaßiger, sarkastischer Unterton mit. So können wir über alles sprechen.

Wie zum Beispiel in der Szene auf der Bowlingbahn, als ihr über Penisvergrößerungen witzelt? Da ist ja klar, dass ihr das selber nicht ernst meint.

Maxime: Das ist auch wichtig. Vilas kann sehr sarkastisch sein, was natürlich die meisten Leute, die den Film sehen, nicht wissen können.

Sylvain: Dabei fand ich es als Regisseur spannend, dass diese Generation – oder jedenfalls diese Freundesgruppe – genau die Witze, die bei uns in dem Alter noch ernst gemeint waren, nun auf eine sarkastische Weise macht. Sie machen sich fast schon lustig über all die alten Witze über Schwanzvergleiche und dekonstruieren das Ganze dadurch. Das hat mir gezeigt, dass dort ein Wandel stattfindet.

Das lässt ja darauf hoffen, dass jüngere Generationen nicht mehr den Druck verspüren, das Bild vom „harten Mann“, der keine Gefühle zeigt, aufrechtzuerhalten. An einer Stelle im Film sagst du, Maxime, dass du dich nicht als Mann fühlst und auch nicht weißt, wann du dich wohl als einer fühlen und dich so bezeichnen wirst. Ist das immer noch so?

Maxime: Ich sah immer sehr jung aus, aber das hat sich seitdem geändert. Ab und zu denke ich aber immer noch so wie damals. Deshalb ist der Film so schön – weil ich auf diese Zeit zurückblicken und dabei vergleichen kann, wie ich mich seitdem weiterentwickelt habe. Aber ob ich heute ein Mann bin…? Ich würde heute eher zum „ja“ neigen, aber an ein paar Sachen kann ich auch noch arbeiten. Mein Bartwuchs ist zum Beispiel nicht der beste.

Der Film endet mit deinem Abschied aus München, kurz bevor du für mehrere Monate nach Singapur gehst. Wie war es denn dort? Haben sich deine Erwartungen an den Aufenthalt dort erfüllt?

Maxime: Die Zeit dort habe ich wirklich genossen. Ich bin nach Singapur gekommen, ohne dort irgendjemanden zu kennen, ganz alleine auf der anderen Seite der Welt. Ich musste neue Freundschaften aufbauen, was mir auch gelungen ist. Durch die Erfahrungen in Singapur habe ich mich um einiges weiterentwickelt und musste selbständiger werden. Nach meiner Rückkehr sagte jeder zu mir, ich sehe mindestens fünf Jahre älter aus, weil ich meine Haare hatte wachsen lassen. Das war positiv gemeint, hat mich aber trotzdem fast gestört. Denn natürlich hat sich da körperlich etwas an mir geändert, aber niemand sieht, was sich in mir verändert hat.

Boyz erzählt vom Jungsein und von den Erwartungen an all das, was noch vor einem liegt. In einigen Szenen geht es aber auch um den Tod. Wir sehen Julian seine im Sterben liegende Großmutter besuchen. War es von vornherein geplant, diese Szenen als Gegenpol zum Rest mit im Film zu haben?

Sylvain: Dass dieser Besuch bei Julians Großmutter sein letzter sein würde, wusste ich vorher nicht. Das haben wir auf dem Weg zu ihr durch den Anruf seines Vaters erfahren. Weil ich Julian kannte und wusste, dass er seine Oma ab und zu besucht, wollte ich dies auf jeden Fall auch im Film zeigen. Die Szene ist auch deswegen wichtig, weil sie in Ergänzung zum Coming-of-Age-Narrativ des Films eine andere Perspektive auf Julian zeigt. Kurz zuvor redet er im Film noch machoartig über sein Fuckboy-Image, aber wir wollten eben auch andere Seiten seiner Persönlichkeit zeigen, wie seine Ehrlichkeit und Sensibilität. Deshalb war es uns sehr wichtig, diese Szene mitaufzunehmen – und natürlich auch, weil es ein starker und wichtiger Bestandteil des Aufwachsens ist, mit dem Tod konfrontiert zu werden. Es gibt einen Moment, wo Julian seiner Oma einen Kuss gibt – er hat überhaupt keine Berührungsängste mit dem Tod. Das fanden wir sehr schön.

Maxime, wie findest du dich denn im Film, jetzt wo er seine Premiere hatte? Kommt es dir blöd oder peinlich vor, dich und deine Freunde so zu sehen oder bist du vielleicht sogar stolz darauf?

Maxime: Bei manchen Szenen cringen wir ein bisschen, was ja vollkommen normal ist. Wir hätten nie gedacht, dass wir auf so einer großen Leinwand beim Filmfest München zu sehen sein würden! Ich bin auf jeden Fall sehr stolz darauf, dass wir unsere Freundschaft so präsentieren und hoffentlich auch jüngeren Leuten zeigen können, dass man mit all diesen Themen so offen umgehen kann. Es ist sehr wichtig, dass man nicht immer alleine ist und dass man Menschen hat, mit denen man offen über alles reden kann. Sylvain ist es gelungen, uns gut darzustellen. Er hat alles getan, um uns zu schützen und auch, um das wahre Ich aus uns herauszukriegen. Ich finde es richtig gut, dass diese Zeit unseres Lebens nun in so guter Qualität festgehalten worden ist. Wir werden in zehn oder zwanzig Jahren mit diesem Film die Gelegenheit haben, zurückzuschauen.

Sylvain: Es ist auf jeden Fall eine Momentaufnahme, auch zum Beispiel, was die Musik angeht. Wenn man sich den Film in zehn Jahren noch einmal anschaut, wird das alles ganz anders gesehen werden als heute. Ich habe ein sehr enges Verhältnis zu allen drei Jungs aufgebaut. Daher war es mir als Filmemacher auch wichtig, dass der Film sozusagen mit den Figuren auf Augenhöhe ist. Ich wollte keinen Film machen, der auf die Figuren herabschaut, sondern ich wollte ihn den Jungs und ihrer Freundschaft widmen und auch die Zuschauer einladen, ein Teil davon zu werden. Um das zu erreichen, haben wir eine Reihe von technischen Entscheidungen getroffen. Zum Beispiel haben wir den ganzen Film in einer einheitlichen Optik gedreht. Durch den Schnitt wollen wir das Fortlaufen der Zeit verdeutlichen, deshalb sieht man alle Figuren immer von links nach rechts laufen. Es geht immer vorwärts, es ist ständig ein Momentum nach vorne da. Es wird nie zurückgeschaut, es gibt keine Rückblenden und auch keine Off-Stimme, die das Geschehen kommentiert. Man ist total drin, wird in den Film hineingezogen und das Leben nimmt dort Fahrt auf.

Sylvain, du hast als eines der Themen, die dich interessieren, vorhin schon Männlichkeit angesprochen. Was gibt denn noch für Dinge, die du interessant findest und über die du dir vorstellen kannst, Filme zu drehen?

Sylvain: Männlichkeit finde ich wahnsinnig spannend und sehr vielschichtig. Dieser ganze Diskurs dazu fängt gerade erst so richtig an. Dazu gibt es meiner Meinung nach noch viel mehr zu erzählen. Aktuell haben wir gerade angefangen, für einen Film über einen Sexualkundelehrer zu recherchieren. Bildung interessiert mich momentan sehr stark, welche Rollen und Werte dabei weitergegeben werden und in welcher Welt junge Menschen in dieser politisch turbulenten Zeit gerade aufwachsen. Ich möchte einfach Filme machen, die Zuschauer auf einer emotionalen Ebene treffen und sie dazu anregen, sich Gedanken zu machen und Fragen zu stellen. Ich sehe mich nicht als Filmemacher, der Antworten gibt. Das ist nicht meine Aufgabe.

Wie gefällt euch denn das Filmfest München bisher so? Wie ist es, dort mit einem eigenen Film vertreten zu sein und im Rampenlicht zu stehen?

Maxime: Ich finde es vor allem richtig cool, dass wir den Film hier zeigen können und dass Leute aus eigenem Interesse kommen, um ihn sich anzuschauen. Das ist aufregend für mich. Außerdem macht es Spaß, nach den Vorstellungen noch über den Film reden zu können und Publikumsfragen zu beantworten.

Sylvain: Ich bin mit dem Filmfest auch sehr verwachsen, weil ich durch mein Studium an der Filmhochschule jeden Sommer hier auf dem Festival war und so immer viele Filme sehen durfte. Es ist eine Ehre für mich, dass der Film hier gezeigt wird und dass er sowohl in der Reihe „Neues Deutsches Kino“ als auch im Programm des Kinderfilmfests läuft.

Dann weiterhin noch viel Erfolg mit Boyz und vielen Dank für das Gespräch!



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