Eigentlich ist die Sache ganz einfach: Ein immens schlauer Algorithmus erkennt anhand des Verhaltens der Menschen, was das Beste für sie ist. Dadurch erhalten sie den für sie passenden Beruf und die damit verbundenen Privilegien des Erwachsenendaseins. Doch was, wenn man auf diese überhaupt keine Lust hat? So ist es zumindest bei Wanja (Lia von Blarer), die mit einigen anderen Jugendlichen in einer autonomen Kommune lebt und dort alles dafür tut, bloß nicht als mündig durchzugehen. Denn das würde den Verlust der Freiheit bedeuten. Dummerweise ist das geplante Chaos für sie aber vorbei, als trotz aller Bemühungen eines Tages Leute bei ihr vorbeischauen und sie darüber informieren, dass sie in einem Architekturbüro anfängt. Denn das habe der Algorithmus für sie berechnet. Wanja lässt sich auf das Wagnis ein und steht dadurch schon bald zwischen den Fronten …
Die Suche nach dem Selbst
Sie gehört zu den Phasen, die so ziemlich jeder Mensch im Leben durchmacht: der Übergang ins Erwachsenenalter, verbunden mit der Frage, was genau man eigentlich tun und sein will. Wie lange dieser Übergang dauert, ist sehr unterschiedlich. Manche wissen sofort, was sie wollen, andere brauchen Jahre. Oft wird so lange ausprobiert, bis man das Passende für sich gefunden hat. Diese Selbstfindung im Trial-and-Error-Verfahren kann sehr spannend sein, aber auch nervig, wenn man das Gefühl hat nicht voranzukommen. Da wäre es manchmal schon praktisch, eine Abkürzung nehmen zu können und bereits zu wissen, was das ideale Ziel ist. Bei Youth Topia ist eine solche Abkürzung Realität geworden, indem das der Algorithmus übernimmt und jedem das sagt, was er oder sie wissen muss.
Das erinnert ein wenig an The Big Door Prize vor einigen Wochen. Dort ist es eine mysteriöse Maschine, die eines Tages auftaucht und gegen einen kleinen Obolus das individuelle Potenzial jedes Menschen verrät. Und doch sind die beiden Titel nur bedingt zu vergleichen. Während es bei der obigen Serie um eine ganze Kleinstadt geht, die durch diese Weissagungen völlig aus dem Tritt gerät, da ist der Algorithmus bei Youth Topia längst etabliert. Hinterfragt wird er deshalb kaum. Außerdem fokussiert sich Regisseur und Co-Autor Dennis Stormer auf seine Hauptfigur und zeigt sie bei ihrem Übergang von dem einen Lebensabschnitt zum nächsten und mit welchen Schwierigkeiten dies verbunden ist. Denn nur weil man weiß, wohin die Reise geht, heißt das nicht, dass das alles deswegen glattgehen muss.
Zwischen zwei Welten gefangen
Genauer befasst sich der Film damit, wie sie auf einmal zwischen ihrem alten und ihrem neuen Leben steht. Dass ausgerechnet sie damit beauftragt wird, ihre vorherigen Mit-Dauerjugendlichen aus dem Gebäude zu locken, in dem sie selbst gelebt hat, ist natürlich schon ein wenig konstruiert. Aber es ist doch ein recht schlüssiges Symbol dafür, dass sie sich von ihrer eigenen Jugend verabschieden und ein neues Leben beginnen soll. Das Gebäude repräsentiert ihr altes Ich, das sie hinter sich lassen muss. Dabei ist Youth Topia nicht so verkopft, wie sich das jetzt vielleicht anhören mag. So gibt es zwar schon den einen oder anderen Denkanstoß, den das Publikum mitnehmen darf. Stormer war es aber auch wichtig, dass dieses unterhalten wird.
Das klappt sogar, zumindest streckenweise. Der Film, der 2021 beim Zurich Film Festival Weltpremiere hatte, gefällt mit einigen absurderen Einfällen und einer ungewöhnlichen Optik. Vor allem der Hang zu sehr ausgeprägten Farben verleiht dem Ganzen eine unwirkliche Atmosphäre. Dennoch hat man das Gefühl, dass Youth Topia nicht wirklich über den Status einer Gedankenspielerei hinauskommt. Dass das alles auch noch etwas griffiger gegangen wäre, pointierter. Doch auch wenn man sich vielleicht mehr gewünscht hätte, die mit satirischen Mitteln versetzte Tragikomödie ist eine interessante Coming-of-Age-Geschichte, die sich ziemlich von denen vielen anderen unterscheidet, die ständig erscheinen. Nicht immer bietet das wirkliche Identifikationsfläche. Aber es ist doch genug, um im Anschluss noch ein wenig in dieser Welt zu bleiben.
OT: „Youth Topia“
Land: Schweiz, Deutschland
Jahr: 2021
Regie: Dennis Stormer
Drehbuch: Marisa Meier, Dennis Stormer
Kamera: Jonas Schneider
Besetzung: Nadim Ben, Gottfried Breitfuss, Alice Britschgi, Saladin Dellers, Lou Haltinner, Regula Imboden, Timon Kiefer, Reiner Krausz, Elsa Langnäse, Amy Lombardi, Marisa Meier
Zurich Film Festival 2021
Locarno 2022
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