Mythen sind von jeher keinesfalls nur Geschichten, die man sich gegenseitig zur Unterhaltung erzählt, sondern sie können auch als Grundlagen genutzt werden, um die Biografie einer ganzen Kultur zu verstehen. Wenn zu Beginn von Im Westen nichts Neues vom Soldaten als Krieger die Rede ist, der sich für sein Vaterland aufopfert und todesmutig in den Kampf zieht, kann man eine direkte Verbindung zu den Helden der Antike sehen. Nicht zuletzt in den Opern eines Richard Wagners werden diese emporgehoben in den Olymp, ebenso wie ihre Charaktereigenschaften, und bilden damit die Grundlage für einen fatalen Ruf nach dem Tausendjährigen Reich. Andere Kulturen haben einen Mythos sogar in ihren wichtigsten Dokumenten angelegt, wie beispielsweise die Definition des Amerikanischen Traumes, der sich in der Forderung von „life, liberty and the pursuit of happiness“ in der Verfassung des Landes finden lässt. Besonders auf das erste Beispiel bezogen hat die Besetzung dieser Mythen und Helden durch die Nationalsozialisten als Konsequenz nach sich gezogen, dass man diese vermeidet oder zumindest diese Verbindung vertuscht. Für viele Kunstschaffende ist dies aber genau der falsche Ansatz, weil der Umgang mit diesen Narrativen zentral ist, wenn man sich von der Ideologie, die sie einst besetzte, weg bewegen möchte, sich aber zugleich über der problematischen Geschichte bewusst werden will.
Die Auseinandersetzung mit Mythen, wie sie unser Leben bestimmen und wie man sie neu betrachtet, sind nur einige der Aspekte des Werkes von Anselm Kiefer. Seine Kunstwerke trafen in den 1960ern und später immer wieder einen empfindlichen Nerv, gerade in seiner Heimat Deutschland, weil es ihm um eine Aufarbeitung der Vergangenheit, der Verbindung zu Mythen und einen ehrlichen Umgang damit ging. Bilder wie Margarethe, Lilith, Sulamith oder Wege der Weltweisheit haben auf ein oder andere Weise provoziert, was in harscher Kritik und gar Ablehnung endete, doch ebenso in einer fruchtbaren Diskussion über die Themen, die er in seinem Schaffen anspricht. In seinem neuen Film befasst sich Regisseur Wim Wenders mit diesem interessanten und nach wie vor relevanten Künstler, doch er legt, wie schon in seinem Projekt zu Pina Bausch, keinesfalls eine bloße Biografie vor, wie man sie vielleicht erwartet hätte. Zwar sieht man den Künstler bei seiner Arbeit und beim Nachdenken über diese, doch dann wechselt Anselm – Das Rauschen der Zeit zu 3D-Sequenzen, in denen die Bilder Kiefers zum Leben erwachen.
Ein Universalgenie bei der Arbeit
Die Kunst Anselm Kiefers an sich ist es, die Wim Wenders zu seinem neuen Film inspirierte, wie er in Interviews betont. Viele Dokumentationen und auch Spielfilme über Künstler wollen diese ins Zentrum rücken, bleiben aber doch nur ein Nachplappern dessen Biografie und trotz vieler Versuche kommen sie ihrem Thema doch nicht näher. Anselm – Das Rauschen der Zeit ist da anders, weil der Künstler an sich durch seine Kunst zum Betrachter spricht und Wenders ihn sprechen lässt. Es ist ein anderer Versuch des Näherkommens, bei dem die Bilder, besonders die 3D-Technik wie auch die nachgestellten Szenen, die Jugend- und Kindheitsmomente Kiefers zeigen, mehr ein Versuch sind, den Blick des Betrachters zu schärfen. Wenders zeigt einmal mehr, dass er zu den modernsten Filmemachern der Gegenwart gehört, weil er die Chancen einer Technik nicht nur sieht, sondern diese erweitert. Die 3D-Szenen in Pina, Every Thing Will Be Fine und jetzt in Anselm – Das Rauschen der Zeit sind ein Indiz dafür.
Eingeteilt ist Anselm dabei in die einzelnen Phasen der Schaffens des Künstlers und orientiert sich an den verschiedenen Ateliers, in denen er arbeitete. Kiefer wird als Maler und als Denker gezeigt, der, scheinbar friedlich auf seiner Zigarre herumkauend, seine Werke kritisch betrachtet, erweitert oder eben für eine Weile links liegen lässt, bis er sie wieder hervorholt. Die Szenen in der Gegenwart in Kombination mit dem Archivmaterial zeigt die Entwicklung Kiefers, und ebenso seinen Umgang mit der Mischung aus Kritik und Lob, die er erfahren hat. Besonders relevant sind hierbei seine Kommentare (die in den Interviews wie auch seinen Bildern) zu Mythen, dem Umgang mit dem Erbe des Zweiten Weltkrieges und dem des Holocaust.
OT: „Anselm – Das Rauschen der Zeit“
Land: Deutschland, Frankreich, Italien
Jahr: 2023
Regie: Wim Wenders
Drehbuch: Wim Wenders
Musik: Leonard Küßner
Kamera: Franz Lustig
Ihr wollt mehr über den Film erfahren? Wir hatten die Gelegenheit, ein Interview mit Regisseur Wim Wenders zu führen und mit ihm über die Doku Anselm – Das Rauschen der Zeit und den Spielfilm Perfect Days zu sprechen.
Cannes 2023
Telluride Film Festival 2023
Filmfest Hamburg 2023
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