Seit einigen Jahren schon sind die Hebamme Marlena (Dorota Kolak) und der deutlich jüngere Tomasz (Lukasz Simlat) ein Paar. Gemeinsam leben sie in einem abgeschieden gelegenen Haus am Meer. Die Zweisamkeit wird jedoch eines Tages empfindlich gestört, als Marlenas Sohn Mikolaj (Tomasz Tyndyk) wieder Teil ihres Lebens wird. Schwer krank ist er, dazu bettlägerig, was sie dazu bringt, ihn bei sich aufzunehmen und zu pflegen. Tomasz hält davon gar nichts, will Mikolaj nicht im Haus haben und sich um ihn kümmern müssen. Doch Marlena besteht darauf und nimmt es sogar in Kauf, ihre Partnerschaft aufs Spiel zu setzen …
Von der Vergangenheit verfolgt
Eine ganze Weile hat es gedauert, bis es wieder etwas Neues von Tomasz Wasilewski gab. Genauer hatte man seit 2016 nichts mehr von dem polnischen Regisseur und Drehbuchautor gesehen, als sein letzter Film United States of Love bei uns gezeigt wurde. Damals befasste er sich mit vier Frauen, die 1990 die neu gewonnene Freiheit ihres Landes entdecken, aber nicht genau wissen, was sie mit dieser anfangen sollen. Auch sein neues Drama Die Verlorenen befasst sich mit einer weiblichen Figur, die sich an einem Wendepunkt in ihrem Leben befindet. Doch während ihre Vorgängerinnen beim letzten Mal mit ungewissem Blick in die Zukunft schauten, ist man hier mit der Vergangenheit beschäftigt.
Wobei es eine ganze Weile dauert, bis diese Vergangenheit auch wirklich aufgearbeitet und erklärt wird. Zwar streut Wasilewski hier und da Hinweise ein, was es mit all dem auf sich hat. Es wird klar, dass da irgendetwas vorgefallen sein muss und die Geschichte der Familie keine glückliche ist. Zumal es da auch noch Marlenas Tochter Magda (Katarzyna Herman) gibt, bei der das Verhältnis ganz offensichtlich auch nicht das beste ist. Dennoch bleibt vieles im Unklaren. Die Verlorenen lässt sich lange nicht in die Karten schauen, weckt Neugierde, ohne sie zu befriedigen. Manchmal hat man gar den Eindruck, dass das hier nicht weit von einem Mystery-Thriller entfernt ist, bei dem das Publikum sich auf Spurensuche begibt und Rätsel lösen muss.
Fremd und fordernd
Doch es geht hier nicht um Gefahren, die überwunden werden müssen. Vielmehr ist Die Verlorenen ein Drama, das sich mit einer dysfunktionalen Familie befasst. Diese Entfremdungen sind bereits spürbar, noch bevor wir wissen, worum es überhaupt geht. So schafft Wasilewski gemeinsam mit seinem Kameramann Oleg Mutu (Donbass) allein schon durch die Bilder eine fremdartige Atmosphäre. Ein ungewöhnliches Bildformat, eigenwillige Perspektiven und Ausschnitte, das trägt schon sehr zur Stimmung bei. Höhepunkt ist eine surreale Szene, in der das Krankenzimmer tierischen Besuch erhält. Und auch wenn das Haus, in dem sich ein Großteil des Geschehens abspielt, direkt am Meer befindet, ist hier kein Gefühl der Freiheit zu spüren. Alles wirkt beengt, erdrückend, geradezu klaustrophobisch.
Schön ist diese Seherfahrung, trotz des idyllischen Settings, natürlich nicht, von Anfang an ist das alles irgendwie unangenehm. Streckenweise wird es sogar geradezu unerträglich. Auch wenn der bettlägerige Mikolaj nicht voyeuristisch ausgenutzt wird, wie es bei dem Thema zu befürchten war, ist das ein harter Anblick. Vor allem die längere Passage, in der er im Sterben liegt, ist eine regelrechte Zumutung. Aber der Film soll auch eine Zumutung sein. Die Verlorenen zwingt uns hinzusehen und uns mit Themen auseinanderzusetzen, mit denen wir nichts zu tun haben wollen. Das betrifft nicht allein Krankheit und Tod, sondern gerade auch die schwierige Familiensituation. Das Drama handelt von einer Mutter, die sich von ihrem Kind abgewandt hatte, weil sie keine andere Möglichkeit sah – vergleichbar zu The Hours – Von Ewigkeit zu Ewigkeit. Bitter ist das, ein weiteres Thema, über das viele nicht sprechen mögen. Und ein weiterer Grund, warum der Film gleichermaßen sehenswert wie fordernd ist.
OT: „Glupcy“
OT: „Fools“
Land: Polen, Deutschland, Rumänien
Jahr: 2022
Regie: Tomasz Wasilewski
Drehbuch: Tomasz Wasilewski
Kamera: Oleg Mutu
Besetzung: Dorota Kolak, Łukasz Simlat, Tomasz Tyndyk, Katarzyna Herman, Marta Nieradkiewicz
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