Virginia Woolf zählt ohne jeden Zweifel zu den bedeutendsten und einflussreichsten Schriftstellerinnen des 20. Jahrhunderts. Und doch spielt sie filmisch gesehen keine Rolle. Da war natürlich das fiktionale The Hours – Von Ewigkeit zu Ewigkeit, welches ihre Lebensgeschichte mit dem Einfluss ihrer Werke zu einer generationenübergreifenden Collage vereinte. Vita & Virginia – Eine extravagante Liebe wiederum erinnerte an ihre Romanze mit der Kollegin Vita Sackville-West. Direkte Adaptionen sind jedoch selten, da ihre Werke im Hinblick auf Sprache und Figuren so außergewöhnlich waren, weniger auf die Handlung bezogen. Die einzige nennenswerte Verfilmung ist Orlando von 1992, welches Vita gewidmet war. Damals spielte Tilda Swinton die Rolle des Dichters, der zu einer Frau wird.
Zwischen Adaption und Dokumentation
Eben dieser 1928 veröffentlichte Roman dient auch als Inspiration für Orlando, meine politische Biografie. Dabei handelt es sich jedoch um keine direkte Adaption. Zwar findet man hier eine ganze Reihe von Leuten, die in die Rolle der Titelfigur schlüpfen. Es wird auch kräftig aus dem einflussreichen Buch zitiert. Das Ganze wird jedoch mit autobiografischen Elementen von Regisseur und Drehbuchautor Paul B. Preciado verbunden sowie zahlreichen Überlegungen und Erfahrungsberichten rund um Transsexualität. Anders als die Vorlage läuft der Wandel eines Geschlechts in der Realität nicht über nach und magisch. Es ist mit vielen Mühen und langfristigen Prozessen verbunden.
Genauer sind es hier 26 Personen, die neben Preciado ihre Lebensgeschichten erzählen und dabei in die Rolle von Orlando schlüpfen. Auch dadurch wird das Konzept einer festen Persönlichkeit in Frage gestellt, wenn all diese Menschen ein und dieselbe Person sind – und gleichzeitig eben nicht. Grenzen sind in Orlando, meine politische Biografie fließend, sofern man sie überhaupt noch als solche bezeichnen möchte. Dabei geht es nicht nur um Geschlechter, auch wenn das ein gemeinsames Thema ist. Allgemein rückt der Dokumentarfilm davon ab, dass alles in Kategorien passt. Diversität bedeutet hier nicht nur, möglichst unterschiedliche Menschen zusammenzuführen, sondern auch innerhalb eines Menschen Widersprüchliches zuzulassen.
Spielerische Grenzüberschreitung
Das Ergebnis ist weniger moralisierend, als es sich anhört. Anstatt aus dem Stoff ein Manifest zu machen, gibt sich der Film – vergleichbar zu Feminism WTF kürzlich – ziemlich verspielt. Da gibt es immer wieder Performances, welche sich auf eigene Weise dem Thema annähern. Dabei werden nicht nur die Grenzen zwischen den Geschlechtern und den einzelnen Personen aufgehoben, auch die Zuordnung, was noch dokumentarisch ist und was Teil der Kunst, fällt nicht so leicht. Soll es auch gar nicht. Vielmehr ist Orlando, meine politische Biografie eine Aufforderung, mehr Ambivalenzen und Interpretationen zuzulassen, sowohl bei sich selbst wie auch bei anderen.
Das Ergebnis ist natürlich speziell. Der Dokumentarfilm, der auf der Berlinale 2023 Premiere feierte und im Anschluss zu zahlreichen weiteren Festivals weiterwanderte, ist sowohl inhaltlich wie auch inszenatorisch nichts für die breite Masse. Das bedeutet aber nicht, dass da nicht auch Themen drin sind, über die es sich allgemein nachzudenken lohnt. Gerade das große Anliegen von Identität und Selbstbestimmung ist etwas, das im Grunde viele etwas angeht, selbst wenn sich die Detailfragen doch deutlich unterscheiden. Orlando, meine politische Biografie ist damit eine durchaus spannende, wenngleich gewöhnungsbedürftige Annäherung an gut zwei Dutzend unterschiedlicher Leben, die individuell und doch universell sind. Die alle auf ihre Weise Orlando sind und dazu einladen, den eigenen Orlando zu entdecken.
OT: „Orlando, ma biographie politique“
Land: Frankreich
Jahr: 2023
Regie: Paul B. Preciado
Drehbuch: Paul B. Preciado
Musik: Clara Deshayes
Kamera: Victor Zebo
Berlinale 2023
Filmfest München 2023
queerfilmfestival 2023
Toronto International Film Festival 2023
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