19. September 2018: Bei der Räumung des Hambacher Forstes kommt ein Journalist zu Tode. Aus 16 Metern Höhe filmt er das Vorgehen der Polizei. Beim Versuch, zu einem besseren Standort zu gelangen, bricht eine der zahlreichen Hängebrücken. Der Mann und die laufende Kamera stürzen ungebremst zu Boden. Es handelt sich um den 27-jährigen Filmstudenten Steffen Meyn, der eine Dokumentation über die Waldbesetzer und deren Widerstand gegen den weiteren Braunkohle-Abbau drehen wollte. Kilian Kuhlendahl, einer von Steffens Kommilitonen und Freunden, stand direkt bei der Absturzstelle. Zusammen mit seinen Mitstudierenden Fabiana Fragale und Jens Mühlhoff hat er das hinterlassene Filmmaterial gesichtet und mit eigenen Interviews bereichert. Daraus entstand eine ebenso wohlwollende wie nachdenkliche Auseinandersetzung mit einem militanten Aktivismus, der den eigenen Körper als Waffe einsetzt – so wie heute die Mitglieder der „Letzten Generation“.
Enorme Höhenangst
„Ein Mensch mit enormer Höhenangst und großem Sicherheitsbedürfnis“, so beschreiben Aktivisten den Filmstudenten Steffen Meyn. Trotzdem sieht man, wie er sich anleinen lässt, Instruktionen entgegennimmt und sich dann in einer Art Flaschenzug zehn bis 20 Meter in die Höhe zieht. Wie er, angekommen beim Baumhaus, sich vorsichtig nach allen Seiten zu sichern versucht, bevor er den ersten Fuß auf schmale Bretter setzt, die laufende 360-Grad-Kamera immer dabei, die auf seinen Fahrradhelm montiert ist. Es ist, als würde der Zuschauer selbst in schwindelerregende Höhen getragen. Als würde er am eigenen Leib erfahren, wie es sich lebt als Baumbesetzer oder Baumbesetzerin, die tagtäglich ihr Leben und ihre Gesundheit riskieren, um den Planeten vor weiterer Überhitzung zu schützen.
Denn genau das ist das Prinzip dieser Art von Widerstand. Einer von Steffens Interviewpartnern beschreibt es in aller Deutlichkeit an einem Beispiel. Man stelle sich vor, eine Brücke solle abgerissen werden, die einem wichtig ist. Unterschriften zu sammeln und zu protestieren, könne die Sprengung nicht aufhalten, so das Argument. Aber wenn man sich auf der Brücke festklebe oder anschweiße, dann darf der Sprengmeister den Befehl zur Explosion nicht geben, jedenfalls nicht in einer Gesellschaft, die wie die unsere das Leben über alles stelle. Der Filmstudent Steffen Meyn sympathisierte mit diesen Menschen und dem Ausprobieren alternativer Lebensform jenseits des Kapitalismus. Er wollte sie kennenlernen und ihnen zuhören. Und: Er wollte am eigenen Leib erfahren, wie sich der Alltag in den Baumhäusern anfühlt. In einer Art Videotagebuch notierte er, wie er sich dabei fühlte und welche Veränderungen in ihm vorgingen.
Auch Steffens Kommilitonen Kilian Kuhlendahl, Fabiana Fragale und Jens Mühlhoff lassen Sympathie für diese Art von politischem Kampf durchblicken. Aber ihr Film ist nicht von Wut über Steffens sinnlosen Tod getrieben, auch nicht von Trauer oder vom Bedürfnis nach Agitation. Sondern sie lassen das bereits gedrehte Material sowie ihre eigenen Interviews mit Aktivisten und Aktivistinnen für sich sprechen. Das dürfte ganz im Interesse des Verstorbenen sein, den alle als einfühlsamen, sanften und friedlichen Menschen beschreiben und der sich in erster Linie als Beobachter verstand, nicht als Mit-Aktivist. Dennoch handelt es nicht einfach um die Fertigstellung des Films, den Steffen Meyn hatte drehen wollen. Dazu war dessen Konzept noch nicht klar genug sichtbar geworden. Die Dokumentation trägt die eigene Handschrift seiner Kommilitonen, basierend auf Steffens Idee und Materialsammlung.
Die Gewaltfrage
Eines ist allerdings sicher: Steffen Meyn hätte sicher keinen Film gedreht, der Partei genommen hätte für gnadenlose Militanz. Gewalt gegen Menschen lehnte der Filmstudent strikt ab. Das zeigt sich in einer zentralen Sequenz, als ein Polizist, der allein gekommen war, um mit den Waldbesetzern zu verhandeln, von einem Hardcore-Militanten niedergestreckt wird. Und das, obwohl oder gerade weil eine friedliche Einigung greifbar nahe schien. „Unendlich dumm“, schimpft der Filmemacher über diese Aktion. Danach zog er sich für eine Weile zurück und übernachtete vorerst nicht mehr im Wald.
Natürlich konnten Kilian Kuhlendahl, Fabiana Fragale und Jens Mühlhoff von der Bedeutung noch nichts wissen, die die „Letzte Generation“ in den vergangenen Monaten erlangte, als sie das Material ihres verstorbenen Freundes sichteten. Aber ihr Film gewinnt durch deren Aktionen eine besondere Aktualität. Er stellt zur richtigen Zeit die richtigen Fragen. Welche Rechtfertigung gibt es, den eigenen Körper als Waffe einzusetzen? Was macht das mit den Betroffenen? Welche positiven Erfahrungen erleben sie in einer solchen Gemeinschaft? Welche Enttäuschungen müssen sie verdauen? Und als wichtigste: Lohnt sich das Ganze, wenn tatsächlich Menschen dabei sterben (neben Steffen verloren während der „Hambi“-Aktionen vier weitere Männer ihr Leben).
Jeder und jede der sieben Aktivisten und Aktivistinnen, die die Filmemacher im Nachhinein interviewt haben, hat dazu ihre und seine eigene Meinung. Manchmal sind sie auch ratlos, jedenfalls zeigen sich alle viel reflektierter und verantwortungsvoller als das Bild, das von ihnen in der Öffentlichkeit gezeichnet wurde. Das ist vielleicht das Wertvollste an diesem sehr besonderen Dokumentarfilm, der aus dem denkbar traurigsten Anlass entstand: Dass er nicht über die Aktivistinnen und Aktivisten spricht, sondern mit ihnen. Angesichts des Hasses, der gerade auf „Der letzten Generation“ abgeladen wird, bräuchten wir viel mehr davon.
OT: „Vergiss Meyn nicht“
Land: Deutschland
Jahr: 2023
Regie: Kilian Kuhlendahl, Fabiana Fragale, Jens Mühlhoff
Drehbuch: Kilian Kuhlendahl, Fabiana Fragale, Jens Mühlhoff
Musik: Antonia de Luca, Caroline Kox
Kamera: Carina Neubohn, Nora Daniels, Steffen Meyn
Amazon (DVD „Vergiss Meyn nicht“)
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