Eigentlich war May (Anais Demoustier) in den Club gekommen, um mit den Freundinnen zu tanzen und die Zeit zu vergessen, so wie sie es viele Male getan hat. Doch dieses Mal ist etwas anders, lernt sie doch John (Tom Mercier) kennen. Es ist nicht das erste Mal, dass sie sich gegenüberstehen. Tatsächlich sind sie sich schon viele Jahre früher begegnet. Auch damals schon sprachen sie über Johns großes Geheimnis: Er wartet. Worauf genau, weiß er nicht. Er weiß nur, dass da etwas Monumentales geschehen wird, was sein Leben für immer verändern wird. Dabei gelingt es ihm, auch May von diesem Gedanken zu überzeugen. Und so werden sie auch weiterhin in den Club gehen, tanzen, sich amüsieren, und dabei Ausschau halten nach einem Ereignis …
Das lange Warten auf etwas
Ein bisschen fühlt man sich bei Das Tier im Dschungel an Warten auf Godot erinnert. In beiden Geschichten folgen wir zwei Menschen, die sich in einem ewigen Wartezustand befinden. Sie wissen nicht, wie lange sie warten müssen, wissen auch nur bedingt, worauf sie eigentlich warten. Sowohl der titelgebende Godot wie auch das Ereignis in dem Film sind diffuse Konzepte, denen sich die Figuren verpflichten, ohne zu wissen, was diese letztendlich bedeuten. Bei dem Film handelt es sich jedoch nicht um eine Adaption des berühmten Theaterstücks von Samuel Beckett. Stattdessen stand die Kurzgeschichte The Beast in the Jungle von Henry James (Das grüne Zimmer, Schloss des Schreckens) Pate, die 1903 als Teil der Sammlung The Better Sort erschienen ist.
Regisseur und Co-Autor Patric Chiha (Boys Like Us) hat diese aber nicht eins zu eins umgesetzt. Der größte Unterschied ist eine Verlagerung des Schauplatzes. Das Original handelte von zwei Menschen, die in einem Stadthaus auf das Ereignis warteten. Dieses haben sie zwar immer mal wieder verlassen, der Großteil der Handlung spielte aber dort. Bei Das Tier im Dschungel wurde daraus ein Nachtclub, in dem die beiden einer unbekannten Zukunft entgegentanzen. Das ist auf den ersten Blick deutlich lebensbejahender als das Schicksal der beiden Vorbilder, die nicht viel taten. Wenigstens haben May und John Spaß. Sie treffen sich auch mit anderen Menschen, sei es zum Tanzen oder auch mit romantischen Absichten. Richtig schlimm hat es die beiden also nicht erwischt.
Das Leben verpasst
Und doch wird mit der Zeit die Tragik ihres Lebens deutlich, das sie nie ganz bewusst führen, sondern immer umherschauen, auf der Suche nach etwas Anderem, etwas Neuem, etwas Besserem. Dadurch ist Das Tier im Dschungel trotz des historischen Settings – die Geschichte beginnt 1979 und endet 2004 – und des seltsamen Szenarios sehr aktuell und greifbar. Gerade heute, wo die Möglichkeiten unendlich erscheinen, führt dies zu einer eigenartigen Lähmung. Man verbringt so viel Zeit damit, nach dem Optimum Ausschau zu halten, dass man das hier und jetzt schnell übersieht. Ob es nun die Suche nach der idealen Partnerschaft ist, die Flüchtigkeit von Arbeitsverhältnissen oder auch das Verhalten als Konsument bzw. Konsumentin: Die Vorstellung, dass alles besser, schöner und erfüllender sein könnte, steht da oft einem akuten Glück im Weg.
Diese Nachdenklichkeit der Geschichte wird aber nicht in Form eines trüben Dramas umgesetzt. Stattdessen tanzen wir gemeinsam mit May und John durch die Jahre. Der Film, der auf der Berlinale 2023 Premiere feierte, ist dabei gleichzeitig ein berauschendes Fest und ein Zeitporträt, wenn sich im Laufe der Zeit Kleidung, Frisuren und Musik verändern. Ähnlich etwa zu Years and Years, das anhand einer Familie die Veränderungen Großbritanniens und der Welt beschrieb, wird Das Tier im Dschungel zu einem Spiegel Frankreichs während dieser Phase. Auch das macht diesen Film so sehenswert, der zwischen faszinierend und schmerzhaft wechselt. Natürlich ist die Abwechslung nicht besonders hoch, wenn man anderthalb Stunden lang Leuten in einem Club zusieht. Aber wer sich auf diese etwas andere Reise einlässt, wird reich belohnt.
OT: „La Bête dans la jungle“
Land: Frankreich, Belgien, Österreich
Jahr: 2023
Regie: Patric Chiha
Drehbuch: Patric Chiha, Axelle Ropert, Jihane Chouaib
Vorlage: Henry James
Musik: Yelli Yelli & Florent Charissoux, Dino Spiluttini
Kamera: Céline Bozon
Besetzung: Anaïs Demoustier, Tom Mercier, Béatrice Dalle, Martin Vischer, Sophie Demeyer, Pedro Cabanas, Mara Taquin, Bachir Tlili
Amazon (DVD „Das Tier im Dschungel“)
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