Wenn ein Kind oder ein Jugendlicher in ein Kinderheim kommt, befindet sich dieser junger Mensch mehr noch als vorher in einem Abhängigkeitsverhältnis. Die Entwicklung, die physische wie auch die emotionale, ist an einem heiklen Punkt angekommen, der viel Geduld und Vertrauen benötigt, sodass es besonderes erzieherisches und pädagogisches Handeln bedarf, damit dieser Prozess gelingen kann. Leider haben in der Vergangenheit viele Berichte über Missbrauch sowie körperliche und sexuelle Gewalt viel von diesem Vertrauensvorschuss zerstört. Die Aussagen über solche Zustände an der Odenwaldschule reichen zurück bis in die 1990er und die über die Ereignisse im Kinderheim Hoffmannshaus im baden-württembergischen Korntal gehen auch schon eine ganze Weile zurück. Die Berichte sind da, die Artikel in den Medien und – noch viel wichtiger – die Aussagen der Betroffenen, die es viel Überwindung und Mut gekostet hat, diesen Schritt zu gehen. Doch nun liegt es an den Institutionen, den nächsten Schritt zu gehen. Der psychische und teils auch der körperliche Schaden ist eine Tatsache, jedoch braucht es nun Aufarbeitung, um zu verhindern, dass sich so etwas wiederholt, und aus Respekt vor den Menschen, die Gewalt in unterschiedlichen Formen ausgesetzt waren.
Mehr als 150 der ehemaligen Heimkinder des Hoffmannshaus haben bis heute ihr Schweigen gebrochen und sind an die Öffentlichkeit getreten, um eben jenen Prozess in Gang zu bringen. Die deutsche Regisseurin Julia Charakter gibt ihnen in ihrer Dokumentation Die Kinder aus Korntal eine Gelegenheit, ihre Geschichten zu erzählen. Dabei geht es zum einen um ihre Aussagen sowie den schwierigen Weg der Aufarbeitung, und zum anderen um die Reaktion der Gemeinde Korntal, die bereits 2013 den Aussagen kritisch oder gar ablehnend gegenüber stand. Die Dokumentation, die auf dem diesjährigen DOK Leipzig ihre Weltpremiere feierte, beleuchtet die Vielschichtigkeit der Ereignisse, die das Bild einer ganzen Gemeinschaft ins Wanken brachte und bei dem nicht nur die ehemaligen Heimkinder ein langes Schweigen des Schocks und der Trauer ausmacht, sondern ebenso die Bürger Korntals sowie die Mitglieder der evangelischen Brüdergemeinde, die bis heute versuchen, so etwas wie ein Vertrauen wiederherzustellen und mit am Fundament für die Aufarbeitung arbeiten wollen.
Nur diese Augen
Im Gegensatz zu manchen Berichten in den Medien begegnet Charakter ihrem Thema ästhetisch sehr unaufgeregt. Ruhige Aufnahmen zeigen ihre Gesprächspartner in ihrem Zuhause, in der Kirche oder beim Gang durch Korntal, was den Worten mehr Raum gibt und sie wirken lässt. Der Kontrast zu Werbematerial, was das Kinderheim und die daran angeschlossenen Einrichtungen wie ein Paradies wirken lassen, bekommt früh einen bitteren Beigeschmack, der sich im Laufe der 90-minütigen Dokumentation noch verstärken wird. Insbesondere den Betroffenen wird dieser Raum gegeben, wobei man immer wieder auf ihre Mimik, ihre Augen und ihre Mundwinkel, aufmerksam wird, die nach wie vor nicht begreifen können, dass das, was sie da sagen, wirklich ihnen geschehen ist. Der emotionale Schutz, die emotionale Distanz, welche man aufgebaut hat, zerfällt, was im Umkehrschluss eine beachtliche Wirkung auf den Zuschauer hat. Es gibt Sequenzen in Die Kinder aus Korntal, die nur schwer zu ertragen sind.
Jedoch darf es beim Innehalten oder beim Schweigen nicht bleiben. Die Bilder und die Worte machen mehr als deutlich, dass Handeln kommen muss, ein Umdenken und vor allem eine Annahme der Schuld, wie sie an einer Stelle formuliert wird. Wenn die Aussagen der Betroffenen auf Relativierungen treffen oder auf eben jene Distanz, fragt man sich mehr als einmal, ob diese Gemeinde (oder wir alle) wirklich bereit ist, diesen Schritt zu gehen. Im Sinne der Menschen, die in Die Kinder aus Korntal zu Wort kommen, sollten wir es sein.
OT: „Die Kinder aus Korntal“
Land: Deutschland
Jahr: 2023
Regie: Julia Charakter
Drehbuch: Julia Charakter
Musik: Leonard Küßner
Kamera: Jonas Eckert
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