Jerry Rothwell ist ein britischer Regisseur, dessen Dokumentarfilme How to Change the World, Town of Runners oder Samenspende unbekannt auf zahlreichen internationalen Filmfestivals liefen und dort ausgezeichnet wurden. Bereits seine erste Dokumentation Deep Water gewann beim Internationalen Filmfestival in Rom 2008 die Auszeichnung in der Kategorie Beste Dokumentation. Samenspende unbekannt wurde auf dem Tribeca Film Festival 2012 als Bester Film ausgezeichnet und war im selben Jahr für den Grierson Award nominiert. Sein letzter Film, Warum ich euch nicht in die Augen sehen kann, behandelte das Thema Autismus und wurde mit insgesamt acht Filmpreisen ausgezeichnet, unter anderem als Beste Dokumentation auf den British Independent Film Awards, auf dem Sundance Film Festival in der Kategorie World Cinema – Dokumentarfilm und auf dem Denver International Film Festival, ebenfalls als Beste Dokumentation.
Sein neues, für Apple TV+ produziertes Projekt ist die Mini-Serie Enfield Poltergeist. Die vier Episoden befassen sich mit dem durch Conjuring 2 mittlerweile wieder bekannt gewordenen Fall der Familie Hodgson, die Ende der 1970er von einem übersinnlichen Phänomen heimgesucht wurde. Aufgrund der Masse an Fakten, insbesondere der Tonaufnahmen, handelt es sich um den bestdokumentierten Fall eines Poltergeist-Phänomens. Diese Aufnahmen, nachgespielte Szenen und schließlich Gespräche mit den noch lebenden Familienmitglieder, deren Freunden und Nachbarn von damals zeigen ein umfassendes Bild der Ereignisse, ihrer Folgen und ihrer Hintergründe.
Im Interview anlässlich des Streamingstarts von Enfield Poltergeist am 27. Oktober 2023 spricht Rothwell über seine Herangehensweise an dieses Thema und den Fall, seine Begegnung mit der Familie Hodgson sowie Maurice Grosse, dem Begleiter der Familie in den 70ern und der Mann hinter den Tonaufnahmen.
In deinen vorherigen Projekten hast du dich mit vielen Themen befasst. Was hat dich an den Ereignissen in Enfield gereizt?
Ich denke, dass ich es einfach mag, mich in ein Thema zu vertiefen. Es mag sein, dass es Filmemacher gibt, die sich auf ein Thema immer wieder beziehen, aber ich gehöre einfach nicht dazu, selbst wenn es bei meinen Projekten sicherlich gewisse Gemeinsamkeiten gibt. Je mehr ich mich mit meinen Filmen befasse und je älter ich werde, desto mehr wird mir bewusst, dass mich der Widerspruch zwischen der objektiven und der subjektiven Wahrheit, besonders bei Familien, fasziniert.
Die Aufnahmen von Maurice Grosse, die Gespräche mit der Familie und den Nachbarn sowie die Geräusche, die man beim Hören wahrnimmt, waren die Grundlage für mich und ich dachte, dass man mit den Mitteln des Dokumentarfilms eine interessante Geschichte erzählen könnte. Das Haus der Hodgsons, das wir eigens für die Serie als Set nachgebaut haben, und die Schauspieler, die auf Basis der Tonaufnahmen bestimmte Szenen nachspielen und -sprechen, ergeben ein interessantes Bild dieses Falles, das hoffentlich auch für die Zuschauer spannend und interessant sein wird.
Diesen Ansatz fand ich sehr spannend und hatte ich auch so noch nicht gesehen in einer Dokumentation. Wie bist du auf diese Herangehensweise gekommen?
Wie man zu einer Form für seinen Film kommt, hängt gerade bei einer Dokumentation natürlich von dem Material ab, dass einem zur Verfügung steht. Als ich das erste Mal Grosses Aufnahmen, speziell die Aussagen der Hodgsons hörte, dachte ich, wie interessant es wäre, diese nachzusprechen. Wenn du da beginnst, ist es nicht mehr weit bis zu der Idee, das Haus der Hodgsons oder zumindest einen Teil davon nachzubauen.
Für die Serie wollten wir uns auf die Personen konzentrieren, die auch im Haus gewesen sind, als diese Ereignisse passierten. Wir wollten nicht auf Experten zurückgreifen, denn damit würden wir den Fall interpretieren. Stattdessen bekommt man die Realität des Erlebten über die Aufnahmen sowie die Sicht Janet Hodgsons, was sie sich wohl bei all dem gedacht hat und wie sie es erlebt hat.
Für die Hogdsons müssen dies Jahre Ende der 70er eine wahre Tortur gewesen seine, ebenso wie für Maurice Grosses Familie. Wie hast du es geschafft, sie davon zu überzeugen, für Enfield Poltergeist sich noch einmal mit diesem sehr belastenden Kapitel ihres Lebens zu befassen?
Das ist eine wirklich gute Frage. Janet und ihre Schwester Margaret wurden durch die Ereignisse von damals für ihr Leben gezeichnet. Und dann kam noch hinzu, dass diese sie in das Licht der Öffentlichkeit, vor allem der Medien, zerrten und sie zu Menschen machte, denen man auf der Straße mit einer Mischung aus Faszination, Misstrauen und Belustigung begegnete.
Als wir Janet und Margaret klar machten, dass wir keinen Horrorfilm drehen wollten, sondern über die Aufnahmen Maurice Grosses daran interessiert waren, den Zuschauer die Dinge, die ihnen widerfahren sind, miterleben zu lassen, gewannen wir sie für uns. Sie hatten von den Aufnahmen gehört und kannten ein paar von ihnen, aber noch lange nicht alle, sodass auch sie diese Geschichte noch einmal miterlebten. Ich hoffe, es hat ihnen die Möglichkeit gegeben, das Erlebte etwas zu verarbeiten oder vielleicht einen Beitrag dazu zu leisten, dass sie damit abschließen können.
Für Richard Grosse ging es vor allem darum, seinen Vater zu ehren. Ihm war daran gelegen, Maurices Erklärungen für die Vorkommnisse im Haus der Hodgsons zu präsentieren. Man kann letztlich viel über die Vorgehensweise seines Vaters denken, aber er begann seine Beobachtungen und seine Untersuchung mit den besten Intentionen, denn er wollte der Familie helfen.
In Enfield Poltergeist greifst du neben den schon erwähnten Aspekten unter anderem auch auf Archivmaterial aus der Zeit, beispielsweise Medienberichte, zurück. Warum glaubst du, dass dieses Material zum Verständnis des Falles wichtig ist?
Auf der einen Seite war das Reihenhaus in Enfield das Heim einer Familie, doch aufgrund der Ereignisse wurde es so etwas wie ein öffentlicher Ort. Ärzte, Reporter und Wissenschaftler bezogen sich immer wieder auf dieses Haus, interpretierten das Geschehen und besuchten die Hodgson, um sich selbst ein Bild vom Geschehen zu machen. Das war natürlich eine Verletzung der Privatsphäre, denn es waren eigentlich zu der Zeit immer Fremde im Haus. Die Medien haben dazu beigetragen, dass die Situation eskalierte.
Ich frage mich immer wieder und wollte dies in der Dokumentation erörtern, was wir als Gesellschaft an so einem Fall interessant finden. Wir hören diese Aufnahmen und diese Geräusche, für die wir keine Erklärung haben, also erfinden wir eine Geschichte, die dem Ganzen einen Sinn gibt. Enfield Poltergeist erzählt davon, wie diese verschiedenen Interpretationen der Ereignisse zustande kommen und dazu geführt haben, dass dieser Fall eine solche gesellschaftliche Aufmerksamkeit erfuhr.
Der historische Kontext ist nicht so präsent und kommt nur am Rande vor. Zu der Zeit gab es ein großes Interesse am Übernatürlichen, was immer dann eintritt, wenn sich eine Gesellschaft in wirtschaftlich-politisch unsicheren Zeiten befindet, oder zumindest scheint es mir so. In Großbritannien gab es 1977 unter den Bestattern einen Streik und jetzt stell dir einmal vor, du wächst in so chaotischen Zeiten wie den 70ern auf und hört dann auch noch so was. Filme wie Der Exorzist haben dieses Interesse an Paranormalen noch weiter angeheizt.
Was für eine Person ist Maurice Grosse oder wie hast du ihn über die Aufnahmen kennengelernt? Wie, glaubst du, hat ihn der Fall verändert?
Maurice ist ein außergewöhnlicher Mensch gewesen. Er war als Soldat bei der Evakuierung von Dünkirchen dabei. Er konnte wegen seines Militärdienstes kein Studium machen und wurde stattdessen zu einem Erfinder sowie Unternehmer. Die Reklamewände, die sich drehen, um mehrere Werbungen zu zeigen, sind seine Erfindung. Zeitungsautomaten gehen ebenso auf ihn zurück wie auch viele Möbelstücke, für die er die Entwürfe zeichnete.
Maurice dachte wie ein Ingenieur und so wundert es nicht, dass er die Phänomene in Enfield von dieser Warte aus anging. Er machte sich einen Plan von jedem Raum des Hauses, er wusste, wo jedes Möbelstück stand und wollte darüber herausfinden, was dort vor sich ging.
Er wurde zu einer emotionalen Stütze für die Hodgsons. Wie Janet sagt, legte er oder vielmehr sein Interesse an den Ereignissen zugleich den Grundstein für die Aufmerksamkeit der Medien an ihrer Familie.
Maurice wie auch andere Beobachter des Falles mussten erfahren, dass einen Fakten und Beobachtungen nur bis zu einem gewissen Punkt bringen und man andere Aspekte wie das Übernatürliche oder Psychologie mit einbeziehen muss, wenn man weitermachen will. Inwieweit deckt sich dies mit deinen Erfahrungen als Dokumentarfilmer?
Das ist auch eine gute Frage. (lacht)
Dieses Projekt hat mich immer wieder zu der Frage zurückgebracht, warum es Geister gibt und warum es Menschen gibt, die sie sehen. Man kann eine Person befragen und sich ihre Aussagen anhören, aber dann gibt es immer noch etwas, an das ich als Regisseur oder Interviewer nicht heran kann. Wer weiß, was der Geist oder dieses Phänomen für sie bedeutet.
Dann gibt es natürlich noch das Unterbewusstsein. Vielleicht habe ich deswegen das Zitat Henrik Ibsens ans Ende der Serie gestellt, in dem es heißt, dass wir alle von Geistern verfolgt werden und diese Erscheinungen die Erklärungen sind, die wir über unserer Welt bekommen haben. Alle meine Projekte befassen sich wohl mit der Frage, wo die Verbindung zwischen der faktischen Realität und ihrer Wahrnehmung der Ereignisse ist.
Was würdest du dir wünschen, dass das Publikum von Enfield Poltergeist mitnimmt?
Zum einen hoffe ich, dass der Zuschauer einen besseren Überblick über das, was damals geschehen ist, bekommt. Dann hoffe ich natürlich, etwas von dem erforscht zu haben, was ich in der Antwort zu deiner letzten Frage erwähnte. Es geht um dieses Gebiet, wenn du es so nennen willst, was außerhalb unsere Welt ist und für das wir keine Worte haben. Kann ich es mittels der Wissenschaft erklären oder liegt die Antwort mehr in der Psyche des Menschen? Ich hoffe, den Zuschauer für solche Fragen interessiert zu haben.
Danke für das interessante Interview.
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