Wohl kaum einer der insgesamt neun Zusatzartikeln der US-amerikanischen Verfassung ist so umstritten wie der zweite. Bereits 1875, nach einem Massaker an 100 Afroamerikanern durch die dem Ku-Klux-Klan nahestehende White League, geriet der zweite Zusatzartikel, aus dem sich das Recht, Waffen zu tragen, ableitet, in die Kritik. Auch wenn man darüber diskutieren kann, inwiefern der Terminus „well-regulated militia“ Training im Umgang mit Waffen und somit keinesfalls davon die Rede sein kann, dass absolut jeder eine Waffe tragen kann, wird besonders in diesem Passus der Verfassung ein Grund gesehen, warum die USA ein so hartes und oft brutales Land sind.
Inwiefern sich diese Behauptung verändert, wenn man schärfere Waffengesetze verabschiedet, bleibt natürlich offen, doch zumindest verweist diese Diskussion auf ein Problem, wenn es um den Umgang mit Gewalt generell geht. Für Außenstehende ist es oft unbegreiflich, welchen Stellenwert Gewalt und Konflikte innerhalb der US-amerikanischen Gesellschaft ausmachen, sowohl in der Geschichte als auch der Kultur des Landes. Die Regisseure Jasmin Herold und Michael David Beamish teilen diese Auffassung und haben in ihrer Dokumentation The Gate mehrere Geschichten vereint, welche die verschiedenen Facetten einer Kultur beleuchten soll, in der Gewalt oft als soziales Bindeglied gesehen wird.
Zuschauer, die in The Gate ein neues Bowling for Columbine vermuten, sei gesagt, dass Herold und Beamish keinesfalls so auf Sensation aus sind wie es einst Michael Moore war. Die Dokumentation, die auf der DOK Leipzig ihre Weltpremiere feierte, beginnt in der Wüste Utahs, in der Nähe eines Militärstützpunkts, auf dem seit vielen Jahren Waffensystem getestet werden. In Dugway, wie der Stützpunkt heißt, sind viele junge Männer und Frauen stationiert, die einen Vertrag unterschreiben müssen, damit sie nichts von dem verraten dürfen, was sie dort testen. Den Regisseuren wie auch dem Zuschauer bleiben so lediglich die Geschichten, Anekdoten und Aussagen jener Menschen, die in der näheren Umgebung wohnen: ein Vater, dessen Sohn vermisst wird, eine Ureinwohnerin, deren Stamm schon lange die gesundheitlichen Konsequenzen der Tests zu tragen hat, oder eine Familie, deren Sohn in Übersee stationiert wurde. In über 80 Minuten bekommt der Zuschauer einen Eindruck über die „menschlichen Verluste“ eines Krieges, auch jene, die außerhalb eines realen Schlachtfeldes stattfinden.
Aus dem Verstand, aus dem Sinn
Das Thema, das sich Herold und Beamish für ihre Dokumentation ausgesucht haben, mag viele dazu einladen, einen allzu oberflächliche Herangehensweise zu wählen, nämlich die des Außenseiters, der mit vorgefertigten Bildern diese Geschichte angeht. The Gate ist jedoch sehr anders, weil die Regisseure ihre Zuschauer zu Zuhörern dieser Vielzahl an Stimmen machen, die unterschiedlicher nicht sein können. Neben den Einheimischen und den Ureinwohnern kommt beispielsweise ein Überlebender des Atombombenabwurfs auf Hiroshima zu Wort, durch dessen Wort zum einen die menschliche Perspektive auf den Krieg verdeutlicht wird, und zum anderen der geschichtliche Kontext einer Militärpolitik, bei der vieles im Geheimen stattfindet.
Es sind alles Arbeiterfamilien, die Herold und Beamish besuchen, also Menschen, die sich sonntags zum Barbecue treffen, die am Wochenende zum Bowling gehen und die hin und wieder auf ihre alte Uniform aus der Armeezeit blicken. Es sind Blicke, in denen sich Stolz zeigt, doch ebenso Trauer und Hilflosigkeit, weil man nicht weiß, was mit einem passiert ist, dem Sohn, der von einem Tag auf den nächsten sich nicht mehr meldet, oder den Freunden und Verwandten, die über Generationen an seltsamen Krankheiten leiden. The Gate ist aber auch ein Film über das Prinzip des „aus dem Verstand, aus dem Sinn“, über das Vergessen und Verdrängen von Sachverhalten, was dieses Panorama an Emotionen billigend Kauf nimmt und einfach weiter so macht, denn der nächste Krieg kommt bestimmt.
OT: „The Gate“
Land: Deutschland
Jahr: 2023
Regie: Jasmin Herold, Michael David Beamish
Drehbuch: Jasmin Herold, Michael David Beamish
Musik: Markus Aust
Kamera: Claire Pijman
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