Momentan droht der Krieg in der Ukraine zwar von dem im Nahen Osten in der Öffentlichkeit verdrängt zu werden. Doch in den letzten anderthalb Jahren war dieser eines der bestimmenden Themen in den Nachrichten und auch im Alltag, sind die Folgen doch in vielerlei Hinsicht zu spüren. Das wird unweigerlich auch dazu führen, dass zahlreiche Dokumentarfilme dieses Thema aufgreifen. Mariupolis 2 war letztes Jahr ein frühes Zeugnis davon, was es heißt in dem belagerten Land unterwegs zu sein. Mit White Angel – Das Ende von Marinka kommt jetzt ein weiteres in die Kinos, welches den Schrecken und das Leid, das mit dem Krieg vor Ort verbunden ist, eindrucksvoll vor Augen führt.
Eine Kleinstadt, die keine mehr ist
Anders als das im obigen Film porträtierte Mariupol, welches zu einem Symbol für die russische Aggression wurde, dürften hierzulande nur wenige Marinka kennen. Aus gutem Grund: Gerade einmal 10.000 Menschen leben in der Kleinstadt im Osten des Landes. Oder besser: Sie lebten dort. So nimmt der Titel White Angel – Das Ende von Marinka bereits vorweg, dass es den Ort nicht mehr gibt. Nach und nach hat Russland nahezu alles vernichtet, was einmal dort gestanden hat. Der Dokumentarfilm hält diese Veränderungen fest, zeigt, wie immer mehr dem Erdboden gleichgemacht wurde. Einzelne Gebäude, die mehrfach in den rund 100 Minuten auftauchen, verdeutlichen den Lauf der Zeit und die damit einhergehende Zerstörung.
Regisseur Arndt Ginzel, ein deutscher Investigativ-Journalist, der mehrere Preise erhalten hat, konnte zu diesem Zweck auf einheimische Aufnahmen zurückgreifen. Genauer standen ihm Videos des ehemaligen Kriminalbeamten Vasyl Pipa zur Verfügung. Dieser war in der Stadt unterwegs, um Menschen zu retten, und hielt seine Taten mit einer Helmkamera fest. Ziel davon war, die Gräueltaten und die Verwüstung zu dokumentieren und so einen Beitrag zur späteren Aufarbeitung zu leisten. Inwieweit die später noch stattfinden wird, muss sich natürlich erst noch zeigen. Aber auch zur reinen Dokumentation ist das Material sehr gut geeignet. White Angel – Das Ende von Marinka macht aus Schlagzeilen gelebte Geschichte, nimmt uns vergleichbar zu anderen Augenberichten wie Für Sama über die Belagerung Aleppos mitten ins Geschehen.
Wichtige Erinnerung an das Leid
Die Aufnahmen der Rettungseinsätze machen aber nur eine Hälfte des Films aus. Die andere besteht aus Interviews, die Ginzel geführt hat. Neben Pipa selbst kommen dabei vor allem Gerettete zu Wort, die sich daran zurückerinnern, wie sie diese Zeit erlebt haben. Diese persönlichen Geschichten bringen ein wenig visuelle Abwechslung mit, auf Dauer ähneln sich die Bilder der Einsätze natürlich. Sie tragen auch dazu bei, dass White Angel – Das Ende von Marinka noch mehr in die Tiefe geht und bei den Zuschauern und Zuschauerinnen Mitgefühl weckt. Dabei wird auf Voyeurismus verzichtet, das Publikum wird nicht übermäßig manipuliert – was bei Leidensbekenntnissen oft vorkommt. Der Film bleibt eher nüchtern.
Sehenswert ist der Eröffnungsfilm der DOK Leipzig 2023 allemal. Er ist das Porträt großen Mutes und Einsatzbereitschaft von Pipa und den anderen, die ihr Leben auf Spiel setzen für andere. Er erinnert vor allem aber auch an die vielen namenlosen und gesichtslosen Opfer eines Krieges, die hinter den Schlagzeilen stehen. Insofern kommt White Angel – Das Ende von Marinka vielleicht gerade zur richtigen Zeit, um der Ermüdung entgegenzuwirken, welches das Thema Ukraine inzwischen zunehmend hervorruft. Es ist eben doch wichtig weiter zuzuhören und hinzuschauen, selbst wenn nichts mehr da ist, das man sehen kann. Denn auch nach dem vermeintlichen Ende geht es weiter, muss es weitergehen.
OT: „White Angel – Das Ende von Marinka“
Land: Deutschland
Jahr: 2023
Regie: Arndt Ginzel
Musik: Hans Henning Ginzel
Kamera: Gerald Gerber
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