© Peter Lindbergh

Wim Wenders [Interview]

Wim Wenders ist ein deutscher Regisseur und Fotograf, der durch Werke wie Paris, Texas oder Der Himmel über Berlin international bekannt wurde.  Wenders gilt neben Regisseuren wie Werner Herzog als Vertreter des deutschen Autorenkinos und ist Mitbegründer des Filmverlag für Autoren. Zudem ist er Gründungsmitglied der Deutschen Filmakademie in Berlin. Im Laufe seiner langen Karriere wurde er mit einer Vielzahl von Preisen und Würdigungen geehrt, darunter dem Orden Pour le Merite, dem Goldenen Ehrenbären auf der 65. Berlinale sowie dem Titel Düsseldorfer des Jahres 2020.

Wenders, der sich nach eigenen Angaben erst als „der Reisende und dann erst Regisseur oder Fotograf“ sieht, kollaborierte schon immer mit anderen Autoren oder Künstler zusammen, so auch mit dem Maler Anselm Kiefer. Über zwei Jahre arbeitete er an der Dokumentation Anselm – Das Rauschen der Zeit, die seit dem 12. Oktober 2023 in den deutschen Kinos läuft. Noch während der Arbeit an diesem Projekt drehte er in Japan den Spielfilm Perfect Days, der in Deutschland am 21. Dezember in den Kinos startet.

Der Protagonist in Ihrem Film Alice in den Städten erklärt an einer Stelle, dass die Fotos, die er macht, nie das abbilden, was er gesehen hat. Kann man diese Äußerung auch auf den Regisseur Wim Wenders beziehen?

Das war sein sehr persönliches Statement und bezog sich auf das Medium, die Kamera, mit der er durch Amerika reist. Polaroidkameras haben ihren eigenen Willen, was man heutzutage in der Welt der Handys mit Fotofunktion, nicht mehr nachempfinden kann. Die Bilder, die man mit ihnen machte, waren tatsächlich immer anders, als man dachte. Polaroidkameras haben immer einen ganz eigenen Blickwinkel gehabt, finde ich, aber ich habe nie herausgefunden, woran das genau liegt.

Rüdiger Vogler, der die männliche Hauptrolle in dem Film spielt, war kein geübter Fotograf, konnte aber mit einer Polaroidkamera gut umgehen, sodass ich ihm diesen Dialog geschrieben habe.

Alice in den Städten befasst sich, wie viele Ihrer Projekte, mit Landschaften und der Faszination, die von diesen ausgeht. Was fasziniert Sie an der Landschaft und Kultur Japans, dem Handlungsort von Perfect Days?

Japan hat eine ganz interessante Kultur, was auch daran liegt, dass dieses Land so lange isoliert war und sich erst spät anderen Einflüssen geöffnet hat. Ein anderer Grund ist die unglaubliche Bevölkerungsdichte, die sich natürlich auf das Sozialverhalten der Menschen auswirkt. Das zeichnet sich durch ein Bewusstsein für das Allgemeinwohl aus, was ich so in anderen Kulturen nicht erlebt habe.

Berlin, wo ich wohne, hat die Pandemie nur ganz schlecht verkraftet. Der Park, in der Nähe meiner Wohnung, war kurze Zeit nach dem Lockdown eine einzige Müllhalde, sodass die Stadtverwaltung beschloss, diesen einzuzäunen, um ihn noch zu retten. Die Menschen in Tokio eroberten mit großer Freude ihre Stadt zurück, doch mit einem ganz anderen Bewusstsein. Öffentliche Plätze wurden sauber hinterlassen, und waren dies auch noch am nächsten Tag, obwohl die Japaner genauso gefeiert haben wie die Deutschen. Jeder hatte einen Müllsack dabei und beseitigte seinen Müll nach der Feier wieder.

Nach der Pandemie wurde ich nach Japan eingeladen für ein Projekt, in dem es eigentlich um die Architektur in Tokio gehen sollte. Als ich sah, wie die Japaner das Ende des Lockdowns feierten, fand ich dies ganz toll, besonders nachdem ich gesehen hatte, wie die Pandemie das Sozialgefüge in Berlin geschädigt hat. Ich wollte nichts über die Architektur machen, aber etwas zu den öffentlichen Toiletten in Tokio, von diesem Bewusstsein für das Allgemeinwohl und für kleine Dinge, die mir schon immer sehr positiv bei dieser Kultur aufgefallen war.

Im Oktober 2022 kehrte ich dann zurück nach Japan, um mit den Dreharbeiten zu Perfect Days zu beginnen, während ich gleichzeitig noch an Anselm arbeitete.

Welche Faszination geht von den Landschaften, die Anselm Kiefer in seinen Bildern zeigt, für Sie aus?

Anselms Bilder zeigen eigentlich fast immer Landschaften. Sie basieren auf Bildern, die er meist selbst gemacht hat, und sie haben daher einen realistischen Ansatz. Anselm hat ein unglaubliches Archiv von vielen tausenden Fotografien, die er immer wieder hervorholt und von denen er sich inspirieren lässt. Dieser Realitätsbezug bei seinen Werken hat mich schon immer fasziniert und ich fühlte, dass wir deswegen etwas gemeinsam hatten. Landschaften können aus sich heraus eine Geschichte erzählen – das versteht Anselm genauso wie ich.

Seine Bilder sind vielschichtig und unfassbar, auch aus fachlicher Sicht. Manchmal sind es fast 20 Zentimeter dicke Schichten von Material, die auf der  Leinwand lagern, angefangen bei Asche, Stroh oder anderen Dingen. Er arbeitet immer die Zeit mit in seine Werke ein, was ich beachtlich finde.

Wie kam es zu der Entscheidung, Anselm mithilfe der 3D-Technik zu drehen?

Wenn man seine Bilder als Film oder als Fotografie in einem Katalog sieht, kann man deren Vielschichtigkeit gar nicht erahnen. Sie haben einfach nicht dieselbe Wirkung. Als ich vor ihnen stand und diese verschiedenen Ebenen bemerkte, wurde mir klar, dass ich den Film als Erlebnis anlegen musste und das geht nur mit der 3D-Technik. Nur so kann man den Zuschauer in diese Werke „setzen“ und sie erleben lassen. Alles andere wäre nur Anschauen, aber mit 3D sieht man viel mehr.

In Das Storyboard von Wim Wenders von Stéphane Lemardelé werden Ihnen Sätze in den Mund gelegt wie, dass das heutige Kino, vor allem das Mainstreamkino, sehr flüchtig sei. Sind Perfect Days und Anselm Werke, die sich gegen diesen Trend stellen wollen?

Par excellence, würde ich sagen. Es passiert leider selten, dass man mit einem Film dem Zuschauer wirklich ein Erlebnis gibt und nicht nur Rezepte wiederholt. Bei Perfect Days und Anselm konnte ich dies verwirklichen, ohne dass mir jemand hereingeredet hat.

Bei Stéphanes Comic habe ich übrigens selbst über die deutschen Dialoge geschaut, um zu sehen, ob ich damit einverstanden war. Es war schon irgendwie komisch, sich selbst als Comic-Figur zu sehen. Irgendwie war ich sogar stolz. (lacht)

Ein weiteres Statement aus dem Comic von ihnen heißt, dass selbst die Fiktion mit der Zeit eine Dokumentation und Archivierung der Realität wird. Inwiefern trifft dies auf Perfect Days zu?

Volles Rohr. (lacht)

Der Film wurde gedreht wie ein Dokumentarfilm. Wir haben weder auf Schienen noch auf Stative für die Kamera zurückgegriffen, was der Herangehensweise bei einer Dokumentation entspricht. Auf der anderen Seite erzählt sie von einem Menschen, den es so nicht gibt und der eine Utopie ist. Ich finde, Hirayama hat ein schönes Leben und ich hoffe sehr, dass es irgendwo jemanden gibt, der so ein glückliches Leben wie er führt. Falls dem nicht so ist, hoffe ich, dass es schon bald viele wie ihn geben wird.

Für Sie beginnen Geschichten immer mit einem Ort. Welcher Ort war das bei Anselm?

Das war sein Gelände in Barjac, in Südfrankreich. Ich durfte dieses Gelände, auf das er nicht viele Leute einlädt, betreten und dort spazieren gehen. Dort kam mir der Gedanke, dieses Projekt, über das wir schon seit 30 Jahren sprechen, endlich anzugehen, denn ich wollte dem Zuschauer ermöglichen, ebenfalls durch dieses Gelände zu gehen und es zu erfahren.

Neben Lou Reed, auf den im Titel von Perfect Days, ja schon angespielt wird, sind noch viele andere bekannte Künstler und Bands im Soundtrack des Films vertreten. Wie haben Sie die Musik für Perfect Days ausgewählt?

Hirayama ist ein Mann, der sein Leben sehr reduziert hat. Seine Musikkassetten hat er behalten und hört diese immer wieder in seinem Radio auf dem Weg zur Arbeit. Seine Wohnung ist sehr karg eingerichtet, nur ein paar Bücher und die schon erwähnten Kassetten sind neben dem Bett und anderen wenigen Möbeln dort zu finden.

In diesem fast mönchischen Leben, was der Protagonist führt, kam es mir logisch vor, dass dieser die Kassetten, die er als Jugendlicher in den 70ern gehört hat, nach wie vor besitzt. Ich fragte dann meinen japanischen Koautor, welche Musik zu dieser Zeit in Japan populär war, weil ich meinen Geschmack dem Charakter nicht aufdrängen wollte. Er lachte nur und meinte, die Japaner hätten Bands wie The Rolling Stones, Velvet Underground oder die Kinks mindestens genauso intensiv gehört wie die Europäer. Alleine schon aufgrund des engen Austausches mit den Amerikanern nach dem Zweiten Weltkrieg haben wir von deren Musikgeschmack sehr viel mitbekommen.

Irgendwie ist Hirayama aufgrund der Kassetten und vieler anderer Dinge fast schon modern oder cool, wie es an einer Stelle sogar heißt.

Na klar. Er hat ja auch nicht die Mittel, um sich etwas anderes zu kaufen als die Kassetten, die er noch hat. Er wäre nicht auf den Gedanken gekommen, diese durch CDs zu tauschen. Da hat er ja auch nicht viel verpasst. Oft ist diese Musik, die er hört, in Low Fi viel kraftvoller als in High End.

Übrigens, den Laden, der die Kassetten an- und verkauft, gibt es wirklich. Wir hatten die Wahl zwischen zehn dieser Läden, denn gerade dieses Medium ist momentan der letzte Schrei in Japan. Man verkauft in diesen Shops auch Walkmans, teils alte, teils aber auch neu gebaute.

Es ist auch keine Seltenheit, dass man gerade für diese alten Kassetten von den Stones oder von Velvet Underground viel Geld hinlegen muss. 100 Dollar sind fast schon zu wenig.

Als wir über die Figur Hirayama nachdachten, hätten wir nie im Traum gedacht, dass er eigentlich so eine coole Socke ist. (lacht)

Was glauben Sie macht die Musikkassetten zu einem solchen Kultobjekt in Japan?

Sie haben etwas Persönliches. Gerade kommt eine ganze Generation dahinter, was das Besondere an ihnen ist im Gegensatz zu den Playlists auf Spotify. Eine Compilation auf einer Kassette ist persönlich und wie eine Geschichte oder ein Brief. Eine Playlist ist letztlich so, als ob ich der eigene Algorithmus wäre. Einem Menschen, den man gerne hat, eine selbst zusammengestellte Kassette mit der Musik, die man gerne mag, zu schenken, ist doch was sehr Besonderes, und viele junge Menschen machen gerade diese Erfahrung oder wollen dahin zurück. Wer weiß, vielleicht erreicht dieser Trend auch Deutschland.

Vielen Dank für das tolle Gespräch.



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