35 Jahre lang war Stéphane Belcourt (Guillaume de Tonquédec) nicht mehr in seiner Heimat gewesen. Wozu auch? Der erfolgreiche Autor fühlte sich in dem provinziellen Ort oft fehl am Platz und konnte es kaum erwarten, von dort wegzukommen. Nun ist er zurück, er wurde als neuer Markenbotschafter zum 200-jährigen Jubiläum einer Cognac-Marke eingeladen. Dabei lernt er Lucas Andrieu (Victor Belmondo) kennen und muss feststellen, dass es sich um den Sohn von Thomas Andrieu (Julien de Saint Jean) handelt. Stéphane kannte ihn gut. Zu gut. Als 17-Jähriger (Jérémy Gillet) hatte er eine leidenschaftliche Affäre mit ihm gehabt, wovon aber niemand wissen durfte. Nun ist Thomas tot und der Schriftsteller muss sich erneut mit einer schmerzhaften Erfahrung auseinandersetzen, vor der er als Jugendlicher geflohen war …
Begegnung mit der Vergangenheit
Es ist ein immer wieder beliebtes Motiv in Filmen: Die Hauptfigur kehrt nach vielen Jahren in die Heimat zurück und muss sich dort mit ihrer Vergangenheit auseinandersetzen. Der Grund für die Rückkehr kann dabei sehr unterschiedlich sein, hoch im Kurs stehen irgendwelche Todesfälle oder Feierlichkeiten. Bei Hör auf zu lügen ist es ausnahmsweise ein beruflicher Anlass. Wobei das Berufliche und das Private in dem Film nur schlecht voneinander zu trennen ist. Dass der Autor zum Beispiel ausgerechnet dem Sohn seiner großen Liebe begegnet, die er als Jugendlicher verschweigen musste, lässt die Reise in die Provinz auch zu einer Reise in die Vergangenheit werden. Die Arbeit wird dabei schnell zur Nebensache.
Aber auch losgelöst davon ist die Grenze zwischen den beiden Welten durchlässig. So erfährt das Publikum, dass Stéphane ganz offensichtlich in seinen Büchern immer wieder autobiografische Ereignisse verarbeitet hat. Damit verbunden sind künstlerische wie moralische Fragen: Darf man das Leben anderer einfach so in seinen Werken verarbeiten? Sonderlich in die Tiefe geht die Diskussion aber nicht. Wo Anatomie eines Falls die Frage nach der Kreation und Rekreation von Wahrheit in den Mittelpunkt stellte, da bleibt das in Hör auf zu lügen nur ein Teilaspekt. Stéphane nutzt die künstlerische Arbeit, um sich mit dem Trauma auseinanderzusetzen, welches die stürmische und letztendlich tragische Liebe in ihm auslöste. Wobei er sich offensichtlich auch 35 Jahre später noch schwer damit tut, ganz überwunden hat er die Geschichte wohl nie.
Trauer über ein falsch gelebtes Leben
Regisseur und Drehbuchautor Olivier Peyon (Tokio bebt) erzählt diese Auseinandersetzung auf zwei Zeitebenen. Die eine spielt in der Gegenwart und zeigt Stéphane, der mit Lucas Zeit verbringt, an einem neuen Buch arbeitet oder sich mit dem Auftritt als Markenbotschafter beschäftigt. Die andere erzählt, wie der junge Stéphane und Thomas sich einander annähern. Diese Flashbacks sind ganz rührend geworden, Hör auf zu lügen arbeitet viel mit sonnendurchfluteten Szenerien. Aus einer anfangs noch sehr ruppigen Begegnung wird eine zärtliche, Peyon fängt die Schönheit einer jungen Liebe in ansprechenden Bildern ein. Das heißt nicht, dass alles ganz harmonisch wäre. Thomas, der eines Tages den Hof seines Vaters übernehmen soll, kann sich nur punktuell wirklich gehen lassen und sich der Liebe hingeben. Immer wieder bricht die Angst durch, stößt er wütend alles weg, weil es eben nicht in das vorbestimmte provinzielle Leben passt.
Das ist schon tragisch. Aber nicht so wirklich interessant, weil dem Ganzen eine Persönlichkeit fehlt. Gerade bei den Figuren hat die Adaption des gleichnamigen Romans von Philippe Besson so ihre Mängel: Stéphane und Thomas sind nicht mehr als Stereotypen. Auch bei dem Scheitern der Beziehung hat Besson nichts anzubieten, was über die üblichen Klischees hinausgeht. Spannender wird es bei dem Strang in der Gegenwart. Nicht nur, dass Hör auf zu lügen dort irgendwann komplexer und etwas überraschender wird. Der in die Jahre gekommene Schriftsteller und der Sohn seiner großen Liebe müssen sich zudem gemeinsam mit den Erinnerungen an den Verstorbenen umgehen, der eine große Bedeutung für sie hatte, letztendlich beide aber wegstieß, weil er nicht anders konnte. Die Rückkehr in die Heimat wird damit für beide zu einer Auseinandersetzung mit der Vergangenheit, mit komplizierten Gefühlen und einer Trauer über ein falsch gelebtes Leben.
OT: „Arrête avec tes mensonges“
Land: Frankreich
Jahr: 2023
Regie: Olivier Peyon
Drehbuch: Olivier Peyon
Vorlage: Philippe Besson
Musik: Thylacine & Bravinsan
Kamera: Martin Rit
Besetzung: Guillaume de Tonquédec, Victor Belmondo, Jérémy Gillet, Julien de Saint Jean, Guilaine Londez
Amazon (DVD „Hör auf zu lügen“)
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