In der Theorie ist das alles ganz einfach. Dokumentarfilme bilden das ab, was da draußen in der Welt geschieht, neutral, distanziert, ohne eigenes Zutun. Spielfilme wiederum sind fiktionale Werke, bei denen es darum geschieht, möglichst gute Geschichten zu erzählen. In der Praxis ist dieser Gegensatz aber kaum einzuhalten. Zum einen sind auch Dokumentarfilme inszeniert: Schon die Auswahl des Themas, der Interviewten oder der verwendeten Szenen sind Eingriffe der jeweiligen Regisseure und Regisseurinnen. Spielfilme wiederum sind fast zwangsläufig von der Realität beeinflusst, wenn sie nicht gleich auf dieser basieren. Und dann gibt es diese Werke, die sich bewusst irgendwo dazwischen positionieren. In Olfas Töchter wird der dokumentarische Teil durch gespielte Szenen ergänzt. Im Rodeo-Drama The Rider wiederum spielt ein Laien-Ensemble fiktionalisierte Versionen seiner selbst.
Über das Leben eines Pornodarstellers
Ähnliches gilt für Pornomelancolia. Im Mittelpunkt steht dabei Lalo Santos, ein mexikanischer Pornodarsteller, der im Internet sehr aktiv ist. Das gilt sowohl für den Mann, den wir in dem Film sehen, wie auch den Mann, der sich im wahren Leben entblößt. Doch auch wenn Lalo die Rolle von Lalo übernimmt, ist Lalo nicht zwangsläufig mit Lalo identisch. Von Anfang an wollte Regisseur Manuel Abramovich keine reine Dokumentation drehen, die das Leben seines Protagonisten nacherzählt. Auch die anderen in dem Film sind nicht zwangsläufig sie selbst, obwohl es ohne Zweifel Überschneidungen gibt. Welche das genau sind, wird dabei nie klar, das Dokudrama verrät es nicht. Ein Publikum, das eine „echte“ Geschichte sehen will, könnte das frustrieren. Es ist nahezu unmöglich für Außenstehende zu erkennen, was jetzt real ist und was erfunden.
Ebenfalls schwierig könnte das Werk für Zuschauer und Zuschauerinnen sein, die sich tatsächliche Einblicke in die Pornoindustrie erhoffen. Zwar ist Lalo in dem Bereich tätig, ebenso andere Männer, denen wir hier im Laufe der anderthalb Stunden begegnen. Anders als aber beispielsweise Pleasure, das von den Erfahrungen einer jungen Frau erzählt, die eine große Pornokarriere anstrebt, ist der Blick hinter die Kulissen hier eher begrenzt. Abramovich hatte – wie er selbst sagt – kein Interesse daran, einen Film über Pornografie zu machen. Stattdessen ist Pornomelancolia ein Film über einen Menschen, der sich auf die verschiedenste Weise verkauft und sich dabei in jemand anderen verwandelt. Was bedeutet es, ein solches Leben zu führen? Was macht das mit ihm?
Der Blick auf die Einsamkeit
Es sind einzelne kleine Szenen, die dabei in Erinnerung bleiben. Wenn Lalo an einer Stelle darüber klagt, dass es sich überhaupt nicht rentiert, Arbeit in seine Videos zu investieren, dann zeigt das den Frust eines Mannes, der sich selbst entmenschlicht. Es geht nur darum, möglichst schnell zum Höhepunkt zu kommen. Ein anderer Moment zeigt ihn bei einer Party, wo er seinen Followern sagt, wie viel Spaß er gerade hat. Doch wir sehen ihn vor und nach dieser mit dem Handy gemachten Aufnahme, in der er teilnahmslos und einsam herumsitzt. Subtil ist das nicht. Wirkungsvoll aber schon: Pornomelancolia führt vor Augen, wie wenig ein Leben, das wir in der Öffentlichkeit führen, mit dem Menschen dahinter zu tun haben muss.
Überhaupt spielen Themen wie Einsamkeit und Melancholie eine große Rolle in dem Film. Der Titel ist da nicht ohne Grund gewählt. Allerdings geht das Ganze dabei nie so wirklich in die Tiefe. Eben weil wir Lalo dabei zusehen, wie er sich ständig verändert und verkauft, gibt es wenige Gelegenheiten, den Menschen hinter der hübschen Fassade kennenzulernen. Dadurch sind immer wieder Passagen in dem Dokudrama, bei dem Abramovich und die anderen gar nicht wirklich viel zu erzählen haben. Es macht es zudem schwierig, wirklich Anteilnahme für den Mann zu entwickeln, der so vielen gefallen will und dafür auch sich selbst aufgegeben hat. Wo andere Filme zum Thema Pornografie Diskussionen anstoßen oder faszinierende Charaktere vorweisen können, da ist Pornomelancolia zuweilen etwas leer.
OT: „Pornomelancolia“
Land: Argentinien, Brasilien, Frankreich
Jahr: 2022
Regie: Manuel Abramovich
Drehbuch: Manuel Abramovich, Fernando Krapp, Pío Longo
Kamera: Manuel Abramovich
Besetzung: Lalo Santos, Adrián Zuki, Diablo, Brandon Ley, El Indio Brayan, Netito, Lothar Muller
San Sebastian 2022
Zurich Film Festival 2022
Filmfest München 2023
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