Wenn Hirsche Flügel haben

Bislang waren Thierry (Grégory Montel) und seine Tochter Luce (Daphné Richard) ein eingespieltes Team. Zwar ist er geistig beeinträchtigt, hat auch nie lesen oder schreiben gelernt. Aber er kümmert sich aufopferungsvoll und so gut er kann um das Mädchen. In ihrem Wohnwagen im Wald haben sie sich ein kleines Paradies geschaffen. Der einzige andere Kontakt zu Menschen sind Claude (François Chattot) und Mina Lelièvre (Tassadit Mandi), die einen Autoschrottplatz betreiben, auf dem Thierry arbeitet. Erst als Luce eingeschult wird, realisiert sie, dass ihr Vater anders ist als die anderen Menschen. Und anders als sie, die wissbegierig und talentiert ist. Während ihre Lehrerin Solange (Lula Cotton-Frapier) diese Begabung fördern möchte, wächst in Luce die Sorge, dass dies zu einer Kluft zwischen ihnen führen könnte …

Herausforderung bei der Erziehung

Auch wenn das klassische Familienbild vorsieht, dass sich Vater und Mutter gemeinsam um ihre Kinder kümmern, in der Realität sieht das oft anders aus. Und so kommen wenig überraschend regelmäßig Filme heraus, bei denen es um die besondere Beziehung zwischen einem Elternteil und dem Kind geht. Da war das hoch gelobte Drama Aftersun, das sogar im Oscar-Rennen war. Die humorvollere Variante Scrapper wird derzeit von Festival zu Festival weitergereicht. Und auch All to Play For ist sehr sehenswert, wenn eine alleinerziehende Mutter verzweifelt darum kämpft, ihr Kind behalten zu dürfen. Wem das alles noch nicht reicht, der kann auch einen Blick auf Wenn Hirsche Flügel haben werfen. Denn auch hier gibt es ein alleinerziehendes Elternteil, nachdem die Mutter vor Jahren verschwunden ist.

Das besondere an dem französischen Drama ist dabei natürlich, dass der Vater geistig beeinträchtigt ist. Kann jemand, der selbst auf dem Niveau eines Kindes ist, sich wirklich um ein anderes kümmern? Zumindest anfangs bejaht der Film das. Luce mangelt es an nichts. Thierry ist liebevoll, würde alles für das Kind tun. Man hat auch nicht den Eindruck, dass das Mädchen unglücklich ist mit der Situation. Im Gegenteil: Als Luce im weiteren Verlauf von Wenn Hirsche Flügel haben eine Alternative sieht und sich ihr neue Möglichkeiten bieten, was das Leben bedeuten kann, ist sie hin und her gerissen. Auf der einen Seite ist sie wissbegierig, entwickelt Spaß daran. Aber sie hat auch Angst davor, ihr altes Leben hinter sich lassen zu müssen und die Zweisamkeit mit dem Vater aufzugeben.

Was ist das Beste fürs Kind?

Regisseur und Autor Stanislas Carré de Malberg, der zuvor an den Drehbüchern von Verstehen Sie die Béliers und Friendzone gearbeitet hat, präsentiert dem Publikum mit Wenn Hirsche Flügel haben schwierige Fragen. Was wiegt in einem solchen Fall stärker: das vertraute Umfeld und die Liebe eines Vaters? Oder die Möglichkeit, sich in einem anderen Umfeld zu entfalten? Thierry kann Luce natürlich einiges beibringen, wenn es um praktische Dinge geht. Ihr geistiges Potenzial zu entwickeln ist aber schwierig bei einem Elternteil, das nicht einmal Kinderlektüre lesen kann. Je älter sie wird, je komplizierter ihr Leben, umso weniger würde er daran teilhaben und sie unterstützen können. Er selbst kam auch nur durch die Hilfe seines Chefs und dessen Frau durch.

Daraus hätte man ein hartes Drama voller Konflikte machen können, wo der Vater um die Tochter kämpft. Doch das gibt es ebenso wenig wie große kitschige Szenen, bei denen das Publikum manipuliert wird. Stattdessen ist Wenn Hirsche Flügel haben über weite Strecken ein recht leiser Film, der die Geschichte für sich sprechen lässt. Das ist auch des Hauptdarstellers sehenswert: Grégory Montel (Parfum des Lebens) gelingt die Balance aus dem Grobschlächtigen und dem Einfühlsamen. Er spielt einen Menschen, der für seine Tochter überall hin gehen würde und doch regelmäßig an seine Grenzen stößt. Das geht zu Herzen: Wer mal wieder in der Stimmung ist für ein emotionales Werk, das ohne den Holzhammer auskommt, ist hier an einer guten Adresse.