Judith (Élodie Bouchez), Fanny (Suliane Brahim) und Michel (Jean-Pierre Darroussin) arbeiten für ein Programm, das sich um den Austausch zwischen Tätern und Opfern kümmert. Ziel ist es unter anderem, dass die Täter Verständnis entwickeln für die Auswirkungen und die Opfer sich alles von der Seele reden können. Ein Projekt hierbei ist ein Treffen in einem Gefängnis, an dem Nassim (Dali Benssalah), Issa (Birane Ba) und Thomas (Fred Testot) teilnehmen, die für Gewalttaten verurteilt wurden, sowie Grégoire (Gilles Lellouche), Nawelle (Leïla Bekhti) und Sabine (Miou-Miou), die überfallen wurden. Besonders schwierig ist aber auch der Fall von Chloé (Adèle Exarchopoulos), die als Kind von ihrem Bruder missbraucht wurde. Und eben der ist zurück aus dem Gefängnis, was sie dazu zwingt, sich ihren Erfahrungen zu stellen …
Arbeit an schweren Themen
Auch wenn Jeanne Herry bislang noch nicht sehr viele Filme gedreht hat, zeichnet sich jetzt schon an, dass der französischen Regisseurin und Autorin schwierige Themen liegen, die sie in betont nüchternen Dramen abarbeitet. Nachdem sie bei In sicheren Händen das Thema Adoption und die damit verbundenen Schwierigkeiten behandelt hat, widmet sie sich in ihrem dritten Langfilm All eure Gesichter einem weiteren diffizilen Bereich, der viel Fingerspitzengefühl erfordert. Genauer erzählt sie anhand mehrerer Beispiele von den Herausforderungen einer Täter-Opfer-Begegnung. Wo sich die meisten Filme, die von kriminellen Handlungen berichten, die Tat oder die Suche nach den Tätern in den Mittelpunkt stellen, wird hier erörtert, wie es mit den Menschen im Anschluss weitergeht. Was macht es mit einem, Opfer eines Überfalls geworden zu sein? Aber auch: Was sind das für Menschen, die solche Taten begehen?
Herry nähert sich den Antworten mittels Gespräche an. Einige davon findet im Vorfeld statt. Beispielsweise gibt es mehrere Szenen, in denen wir Nassim kennenlernen, der für Raubüberfälle verurteilt wurde und nun im Gefängnis sitzt. Der Hauptteil ist aber den Gruppensitzungen reserviert, in denen je drei Täter und Opfer zusammenkommen, unterstützt von einigen Außenstehenden. Anders als man vorher vielleicht meinen könnte, kennen sich die Täter und Opfer nicht. Es handelt sich zwar um vergleichbare Verbrechen – alle drei wurden überfallen oder ausgeraubt –, aber es gibt keinen direkten Bezug. Und doch wird es in All eure Gesichter schnell persönlich, wenn die drei Täter zum ersten Mal erkennen müssen, was sie anrichten. Ihnen mag es nur um Geld und Besitztümer gehen, niemand von ihnen wollte den Menschen schaden. Und doch sitzen sie Leuten gegenüber, die nach den Überfällen nie zurück ins Leben gefunden haben.
Ein Film, der an die Nieren geht
Immer wieder geht das Drama dabei an die Nieren, ohne dass es groß manipulativ eingreifen müsste. Da wird nicht aufgebauscht, gibt es keine erdrückende Musik, die dem Publikum sagen will, was es zu fühlen hat. Und doch entwickelt All eure Gesichter eine emotionale Wucht, die so groß ist, dass man im Anschluss erst einmal ein bisschen Zeit zur Verarbeitung braucht. Stark ist auch der zweite Strang um eine junge Frau, die nach vielen Jahren ihrem Bruder begegnen wird, der sie als Kind misshandelt hat. Anders als bei der Gruppensitzung gibt es den direkten Bezug. Ebenfalls auffällig: Wo der andere Strang versucht, auch die Täter zu verstehen und ihre Perspektiven in die Geschichte einzubauen, da ist der Bruder lang ein Gespenst. Wir wissen, dass es ihn gibt und dass Gespräche mit ihm stattfinden. Diese werden aber nicht gezeigt. Bis zum Schluss bleibt offen, ob wir ihn überhaupt zu Gesicht bekommen.
Der Film ist trotz sparsamer Zuspitzungen spannend, knapp zwei Stunden lang sitzt man gebannt davor und hört den verschiedenen Gesprächen zu. Herry kann sich dabei auf ihr starkes Ensemble verlassen, das zum Teil mit dem ihres letzten Films identisch ist. Immer wieder gelingen im Zwischenspiel intensive Momente. Bedauerlich ist, dass es zum Ende ein bisschen schnell geht, beispielsweise aus heiterem Himmel Freundschaften in der Gruppe entstehen, ohne dass genügend Zeit da war, um alles zu entwickeln. Insgesamt geht das in All eure Gesichter auch ein bisschen zu glatt. Da hat man schon das Gefühl, dass der Film mehr Plädoyer für den Austausch ist, als diesen nur abbilden zu wollen. Sehenswert ist das Drama aber auf jeden Fall, geht zu Herzen und regt zum Nachdenken an, indem hier mal ein bisschen tiefer gebohrt wird. So menschlich wie hier wird es im Kino nur selten.
OT: „Je verrai toujours vos visages“
Land: Frankreich
Jahr: 2023
Regie: Jeanne Herry
Drehbuch: Jeanne Herry
Kamera: Rémi Daru
Besetzung: Dali Benssalah, Leïla Bekhti, Elodie Bouchez, Suliane Brahim, Jean-Pierre Darroussin, Adèle Exarchopoulos, Grégory Gadebois, Gilles Lellouche, Miou-Miou, Denis Podalydès
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