Langsam schweben wir auf eine Lagune zu, die mit ihren Wasseradern an die Venen eines Blattes erinnert. Sanft hebt die Musik an. „Eine Legende…“, beginnt eine Off-Stimme aus einer unbestimmten Zukunft. Kanäle, die kunstvolle Muster bilden. Eine surreale Landschaft. Möwenreiche, grauen Inseln. Im Hintergrund webt sich ein Musikbett in die Szenerie, das eine Atmosphäre des Geheimnisvollen eröffnet. Die Off-Stimme erzählt von Menschen, die auf den Spuren einer Legende sind und sich dabei in einem Labyrinth aus Kanälen verlaufen. Zeitreisen seien hier möglich. Doch sie suchen weiter. „…and their homes were boats“, heißt es. Doch was werden Sie auf ihrer Reise finden?
Über den Dächern von Venedig
Mit Lagunaria präsentiert uns Regisseur Giovanni Pellegrini seine essayistische Auseinandersetzung mit Venedig und dem Wandel der Zeit. Er beginnt seinen Dokumentarfilm mit Drohnenaufnahmen und wird diese Idee im Laufe des Films noch einige Male verwenden. Wir können dadurch die Lagunen betrachten wie surrealistische Malereien; Möwen, die wie weiße Farbtupfer vorbeiziehen. Er lässt uns viele Male über die Dächer von Venedig blicken, einer Stadt, die – in seiner futuristischen Erzählung – verschwunden ist, eine Legende, die in Raum und Zeit schwebt und die Menschen haben sich auf die Suche nach ihr begeben. Hat diese Stadt jemals existiert? Für uns stellt sich diese Frage zwar nicht, aber wenn wir uns auf die Zukunft der Erzählerin einlassen, erhalten die Aufnahmen aus den Lebenswirklichkeiten einiger Venezianer und Venezianerinnen eine düstere Note.
Die Off-Stimme lässt die Restaurationsarbeiten fast fatalistisch erscheinen. Was würden die Restaurateure in der Kirche der Zukunftsstimme sagen? Ausbesserungen an den salzzerklüfteten Rümpfen der Schiffshäuser – eine Sisyphusarbeit? Würden die Touristen beim Fotografieren kurz innehalten, wenn sie wüssten, dass die Zukunftsstimme meint, sie würden keine Stadt mehr sehen, sondern „…a vulgar museum of itself?“ Die Kamera zeigt die Risse des „vulgar museum“ – Regenfluten, Überschwemmungen, Enge, hungriges Salz; Probleme, die sich durch die Natur, das Klima ergeben. Durch die Kamera sehen wir den alltäglichen Umgang mit den Naturphänomenen, finden einen bewahrten Mut der Menschen – ein Bewohner, der das Wasser aus dem Café zu fegen versucht –, Hoffnungen und kraftschöpfende Momente, die den allzu vertrauten Bilderfluten von Venedig streckenweise eine neue Perspektive beziehungsweise eine emotionale Tiefe verleihen.
Die Kamera als Restaurateur
Pellegrini wird selbst zu einer Art Restaurateur. Die Kamera taucht durch zahlreiche Brücken, folgt Menschen durch die Gassen, durch die manches Mal ein Boot manövriert werden muss, sieht sich satt an den Spiegelungen und an der Architektur, findet Tauben und Enten auf dem Weg, Fragmente des Alltags werden aufgenommen, durch die Stimme mit Worten poliert und wie ein Mosaik neu geordnet auf dem Boden des Dokumentarfilms. Fast mahnend kommentiert die Off-Stimme das „vulgar museum“, welches sie selbst theoretisch gar nicht sehen kann, von dem sie Mythen und Geschichten weiß, anders als das Publikum, das dadurch teilweise mehr weiß als die Erzählerin.
Die Stimme führt Sie durchs Museum
Bei all der Atmosphäre des Mystischen, die besonders am Anfang und am Ende des Werkes zur Geltung kommt und nicht uninteressant ist, wirken die Sätze aus dem Off an manchen Stellen leider zu gewollt oder aufgeblasen, wodurch man an diesen Punkten kurz aus der Immersion geworfen werden kann. Das ist zum Beispiel der Fall, wenn es darum geht, dass die Geschichten der Stadt zu komplex wären, um sie in wenigen Tagen zu verstehen – haben nicht viele alte Städte eine komplizierte Historie? Und wenn die Stadt auf ihre Weise von jeder Stadt reden soll, wäre es natürlich spannend gewesen, wenn die Erzählerin etwas über ihre eigene Lebenswirklichkeit in ihrer rätselhaften Zukunft offenbart hätte. Wie sieht die Stadt der Zukunft aus? Zudem gibt es Stellen, an denen die Erzählerin nicht ganz konsistent, in denen das Vokabular auch etwas schonmal gehört wirkt. So merkt man mitunter auch Längen. Es bleibt zwar dennoch interessant, am Ende könnte man jedoch das Sitzfleisch merken.
Die Off-Stimme wird zur Museumsführerin. Ein Museum, das bereits nicht mehr existieren soll in der Zukunft, ein Museum, dessen Existenz selbst ein Rätsel ist. Pellegrini versucht Venedig um Museumsgänge zu erweitern, überflutete Abzweigungen der Geschichte zu erschließen und dem überfüllten Museum etwas hinzuzufügen, auch mal heraus zu zoomen. Historisch interessant sind hierbei die Aufnahmen von Venedig, die während des Lockdowns aufgenommen worden sind und leere Plätze und Gassen zeigen. Die geisterhafte Stimmung wirkt fast so, als hätten die Tauben, Enten und Möwen in einer Art Parodie von Hitchcocks „Die Vögel – Venedig Edition“ die Stadt übernommen. Ganz eindrucksvoll ist auch das Schlussbild.
OT: „Lagunaria“
Jahr: 2023
Land: Italien
Regie: Giovanni Pellegrini
Drehbuch: Giovanni Pellegrini
Musik: Filippo Perocco
Kamera: Giovanni Pellegrini
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