Regisseur Thomas Cailley am Set von "Animalia"

Thomas Cailley [Interview]

In Animalia entwirft Thomas Cailley eine Welt, in der sich aus unerklärlichen Gründen immer wieder Menschen in Tiere verwandeln. Im Zentrum der Geschichte stehen dabei François (Romain Duris) und sein Sohn Émile (Paul Kircher), die in den Süden Frankreichs ziehen, wo die bereits transformierte Frau von François in einer Einrichtung unterkommen soll. Die Anpassungsschwierigkeiten sind groß für die beiden. Dabei stehen ihnen das größte Problem noch bevor, als Émile an sich selbst eine Veränderung beobachtet. Anlässlich des Kinostarts am 11. Januar 2024 haben wir uns mit dem Regisseur und Drehbuchautor unterhalten. Im Interview sprechen wir über unser Verhältnis zu Tieren und das Leben in einer sich verändernden Welt.

Könntest du uns etwas über die Entstehungsgeschichte von Animalia verraten? Wie bist du auf diese Idee gekommen?

Ich habe mich mit einer Autorin getroffen, die bereits ein erstes Drehbuch geschrieben hatte. Die Geschichte war da noch etwas anders, hatte aber bereits diese Verbindung von Mensch und Tier. Zusammen haben wir drei Punkte aufgeschrieben, die uns sehr wichtig waren und mit denen wir arbeiten wollte. Der erste war das Verhältnis zu einem sich verändernden Körper. Der zweite betraf das Verhältnis von einem Vater zu seinem Sohn. Und der dritte ist das Verhältnis zu einer Gesellschaft, die eine große Veränderung erlebt. Wie kann ein Zusammenleben von so unterschiedlichen Lebensformen aussehen?

Es gab in den letzten Jahren eine ganze Reihe von Horrorfilmen, in denen Menschen sich verwandeln. Dort waren es meistens Monster. Warum habt ihr euch für Tiere entschieden?

Mir war es wichtig, mit dem Film auszudrücken, dass diese Mutation zu einer Unterschiedlichkeit führt und zu unterschiedlichen Perspektiven, sowohl im Hinblick auf die Gesellschaft wie auch das Individuum. Eine der größten Andersartigkeiten, mit der wir permanent in Bezug stehen, ist die Tierwelt. Der Mensch vergisst sehr gerne, dass er selbst von der Tierwelt abstammt. Wir sind auch die einzige Spezies, die überhaupt diese Grenze aufstellt und für sich in Anspruch nimmt, etwas anderes zu sein. Ich fand es interessant, in einer Zeit der ständig abnehmenden Biodiversität, dies nicht als Dystopie auszudrücken, sondern zu zeigen, wie wir in einer größeren Diversität zusammenleben können. Da war es für mich ganz klar, dass ich in die Tierwelt abtauchen möchte. Wenn wir aus den Menschen Monster gemacht hätten, wäre aus ihnen wieder etwas ganz Anderes geworden. Uns ging es aber um das Gemeinsame. Durch diese langsame Progression ist es schwierig, diese Abgrenzung durchzuführen.

Hast du eine Erklärung dafür, warum wir uns von der Tierwelt distanzieren und nicht mehr Teil von dieser sein sollen?

Wenn wir uns von den Tieren distanzieren, gibt uns das die Möglichkeit, sie leichter auszubeuten.

Diese Abgrenzung findet auch innerhalb der Familie statt. Als sich die Mutter in ein Tier verwandelt, besteht ihr Mann darauf, dass es immer noch sie ist. Der Sohn hingegen sagt: Das ist sie nicht. Das ist kein Mensch mehr. Was bedeutet es für dich, ein Mensch zu sein?

Ich habe darauf keine Antwort. Viele machen das Menschsein an der Sprache und der Fähigkeit der Kommunikation fest. Aber das ist bei uns nicht so. Selbst als sie sich verwandeln und die menschliche Sprache verlieren, haben sie Wege miteinander zu kommunizieren. Ein anderer Versuch der Unterscheidung betrifft die Fähigkeit eines sozialen Verhaltens. Aber auch da sieht man, dem ist nicht so, weil Émile entwickelt ein Sozialverhalten mit einigen mutierten Wesen. Und selbst die Aggressivität, die manche als Ausschlusskriterium bei menschlichem Verhalten sehen, funktioniert nicht, weil es auf beiden Seiten Aggressivität gibt. Das war eben auch das, was mich an dem Film so interessiert hat, dass du eben keine ganz deutliche Grenze ziehen kannst. Das ist etwas, das jeder für sich ausloten muss.

Ist die Verwandlung in ein Tier denn etwas Positives, etwas Negatives oder weder noch?

Weder noch. In Fantasyfilmen geht eine Verwandlung oft mit einer klaren Wertung einher. Du kannst ein Monster werden, was negativ wäre, oder auch ein Superheld, was eine positive Veränderung darstellt. Genau das wollten wir nicht. Wir wollten eine Mutation, die nicht mit einer moralischen Bewertung verbunden ist. In unserem Film gewinnen die Menschen durch die Verwandlung neue Fähigkeiten dazu, verlieren aber auch welche. Fix lernt mit der Zeit zu fliegen, verlernt aber die menschliche Sprache. Émile kann sehr schnell rennen, kann aber nicht mehr Fahrrad fahren. Uns war es wichtig, diese zwei Seiten zu zeigen. Paul, der Émile spielt, hat das auch an sich selbst erfahren. Im Laufe der Dreharbeiten hat er immer mehr Gefallen daran gefunden, sich in ein Tier zu verwandeln. Er hatte Gefallen an einer neuen Lebensform, ohne dass diese automatisch besser ist.

Wenn du dich in ein Tier verwandeln könntest, welches wärest du gern?

Ich habe vor Kurzem einen Dokumentarfilm über Wale gesehen und war beeindruckt davon. Sie leben sehr lange, haben exzellente Kommunikationsfähigkeiten über mehrere tausend Kilometer hinweg und bewegen sich auf eine sehr grazile Art und Weise. Wenn ich mir ein Tier aussuchen könnte, wäre es das.

Animalia The Animal Kingdom Le Règne animal
François (Romain Duris) und sein Sohn Émile (Paul Kircher) müssen sich in „Animalia“ in einer sich verändernden Welt zurechtfinden. (© Studiocanal)

Du hast gerade schon Paul Kircher erwähnt. Warum hast du ihn ausgesucht? Wonach hattest du gesucht bei der Besetzung der Rolle?

Ich suchte jemanden, der eine gewisse Wildheit hat. Der sehr frei ist. Als ich Paul begegnet bin, habe ich das gleich in ihm gesehen. Er hat eine gewisse Tollpatschigkeit und gleichzeitig eine sehr große Zerbrechlichkeit, aber auch eine Stärke, die ihm glaube ich noch gar nicht so wirklich bewusst ist. Was mir an ihm auch gefallen hat, ist dass er verschiedene Altersschichten in sich vereint. Er ist ein junger Mann, aber auch noch jugendlich und zum Teil sogar kindlich. Manchmal hat er mich an Mogli erinnert. Außerdem liebe ich seinen Blick.

Was mir bei deinen bisherigen Werken aufgefallen ist, ist das Motiv der Veränderung. In deinem ersten Film Liebe auf den ersten Schlag begleitest du zwei Menschen, die sich auf das Ende der Welt vorbereiten. In der Serie Ad Vitam: In alle Ewigkeit hat sich die Welt verändert. Bei Animalia ist sie gerade im Begriff sich zu verändern. Ist das jetzt Zufall oder tatsächlich ein Motiv, das du gezielt suchst?

Beabsichtigt war das so nicht. Es ist mir erst später aufgefallen, dass es diese Gemeinsamkeiten gibt. Ich hoffe nicht, dass wir irgendwann in einer Welt wie in Ad Vitam enden werden. Da ist die Welt von Animalia doch sehr viel erstrebenswerter. Es hat für mich auch etwas Utopisches, weil wir eine Welt zeigen, die lernen muss, mit mehr Diversität umzugehen. Gleichzeitig hat das etwas sehr Reelles, weil wir schon mitten dabei sind. Wir müssen lernen, mit einer sich verändernden Welt zurechtzukommen.

Zwischen deinen beiden Filmen lagen insgesamt neun Jahre, das ist schon ziemlich viel für einen zweiten Film. Woran lag es, dass es so lang gedauert?

Eben weil ich Ad Vitam gemacht habe. Ich habe vier Jahre an meinem ersten Film gearbeitet, vier Jahre an der Serie und jetzt wieder vier Jahre an meinem zweiten Film. Da war nicht viel mit Ausruhen.

Und wie geht es im Anschluss weiter? Womit bist du die nächsten vier Jahre beschäftigt?

Ich hoffe sehr, dass ich dieses Jahr damit anfangen kann, an einem Drehbuch für einen neuen Film zu arbeiten, um dann 2028 fertig zu sein.

Aber du kannst noch nicht sagen, worum es gehen wird?

Nein. Aber ich vermute mal um eine Welt, die sich verändert. (lacht)

Vielen Dank für das Gespräch!

 

Zur Person
Thomas Cailley wurde am 29. April 1980 in Clermont-Ferrand, Frankreich geboren. Er studierte zunächst Politologie am Institut d’études politiques de Bordeaux. Anschließend machte er eine Kulturmanagerausbildung und arbeitete in den Bereichen Kino, Fernsehen und Videospiele. Im Jahr 2007 begann er an der Pariser Filmhochschule La Fémis ein Studium in Drehbuchschreiben. 2014 erschien sein für mehrere Césars nominierter Debütfilm Liebe auf den ersten Schlag über zwei Jugendliche, die sich auf das Ende der Welt vorbereiten. 2018 folgte die Science-Fiction-Serie Ad Vitam: In alle Ewigkeit. Sein zweiter Spielfilm Animalia feierte 2023 in Cannes Premiere.



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