Wie viele Menschen in Deutschland keine Wohnung haben, ist nur schwer festzustellen, die Zahlen schwanken je nach Schätzung sehr stark. Einige 100.000 sind es aber auf jeden Fall. In der öffentlichen Wahrnehmung spielen sie keine große Rolle, man spricht nur wenig darüber. Eigentlich ist das Thema dadurch für Dokumentarfilme ein sehr dankbares. Aber die Auswahl ist eher gering. Vor einigen Jahren war da beispielsweise draußen, das uns vier Menschen genauer vorstellte, deren Leben auf der Straße oder unter Brücken stattfindet. Nun kommt mit Berlin Bytch Love ein weiterer Film bei uns in die Kinos, der in diesem Umfeld spielt. Wobei die zwei Werke kaum miteinander zu vergleichen sind, trotz einer inhaltlichen Nähe setzen sie völlig unterschiedliche Schwerpunkte.
Die Liebe auf der Straße
Ein Unterschied wird durch den Titel bereits vorweggenommen. Erzählt wird von zwei Liebenden, genauer Sophie und Dominik. Beide sind sie noch sehr jung, sie 15, er 17, als wir sie kennenlernen. Und sie sind richtig ineinander verschossen. Im Laufe des Films werden zwar auch andere Personen vorkommen. Aber sie bleiben Randerscheinungen, Berlin Bytch Love konzentriert sich ganz auf die Jugendlichen. Auf den ersten Blick sind sie nicht auffällig, wenn sie kuscheln und sich liebkosen, die Gegenwart genießen und dabei über die Zukunft nachdenken. Nur dass sie nicht zur Schule gehen, nicht bei ihren Eltern leben, sondern draußen. Die Straßen um den Görlitzer Park sind ihr Zuhause, zumindest eine Zeit lang. Später wird sich das wieder ändern.
Zum Thema Obdachlosigkeit findet sich deshalb auch gar nicht so viel. Der Film mag ein gesellschaftliches Problem aufgreifen, spricht aber nicht darüber. Überhaupt verzichten Heiko Aufdermauer und Johannes Girke, die gemeinsam Regie führten, darauf, das alles irgendwie kontextualisieren zu wollen. Es gibt keine Experteninterviews. Es gibt ja nicht einmal Interviews mit den beiden Hauptfiguren. Berlin Bytch Love heftet sich an deren Fersen und blickt ihnen über die Schulter, ohne sie direkt anzusprechen. Das werden manche vielleicht als eine vertane Chance empfinden, als Verschwendung des Themas. Vielleicht wäre es das auch, wenn nicht die beiden selbst so spannend wären und mühelos einen Film tragen, ohne ihn „wichtig“ zu machen.
Immer nah dabei
Über zwei Jahre hat das Regieduo die beiden begleitet und ihnen über die Schulter geschaut. Dabei sind sie ihnen auch erstaunlich nahegekommen. Sophie und Dominik scheren sich nicht darum, dass da eine Kamera bei ihnen ist. Sie scheinen sie nicht einmal wahrzunehmen. Das zeugt dann auch von dem großen Vertrauen aller Beteiligten, was sehr wichtig ist bei einem Dokumentarfilm, der in erster Linie ein Porträt ist. Berlin Bytch Love lässt uns an der Beziehung teilhaben, aber auch an den Träumen und Sorgen der beiden. Mal sprechen sie darüber, wie sie nach Frankreich abhauen wollen. An anderen Stellen geht es um die Angst davor, von der Polizei aufgegriffen zu werden. Das betrifft vor allem Dominik, der schon mehrfach Probleme mit dieser hatte und wegen diverser Delikte bekannt ist.
Der Dokumentarfilm, der auf dem DOK.fest München 2022 und einer Reihe weiterer Festivals zu sehen war, ist dabei jedoch keine bloße Momentaufnahme. Durch die zeitliche Dimension der Aufnahmen hält er fest, wie sich die Beziehung der beiden im Laufe der Zeit festigt und auch verändert. Daran dürfte auch das Kind seinen Anteil haben, das sie austrägt und sie dazu zwingt, mehr Verantwortung zu übernehmen. Vieles von dem, was Berlin Bytch Love uns zu zeigen hat, ist dadurch von einer unerwartet universellen Natur. Es ist eine Liebesgeschichte, die hier erzählt wird. Diese mag nicht immer ideal sein, ist von vielen Unsicherheiten begleitet. Aber sie ist so echt und direkt, das man Teile darin gut wiedererkennen kann.
OT: „Berlin Bytch Love“
Land: Deutschland
Jahr: 2022
Regie: Heiko Aufdermauer, Johannes Girke
Drehbuch: Heiko Aufdermauer, Johannes Girke
Kamera: Johannes Girke, Heiko Aufdermauer, Victoire Bonin
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