Chinesisches Roulette
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Chinesisches Roulette

Chinesisches Roulette
„Chinesisches Roulette“ // Deutschland-Start: 22. April 1977 (Kino) // 8. November 2005 (DVD)

Inhalt / Kritik

Ariane (Margit Carstensen) und ihr Ehemann Gerhard (Alexander Allerson) gehören zur Münchener High Society. Übers Wochenende sind beide verreist – sie nach Mailand und er nach Oslo –, während ihre gemeinsame gehbehinderte Tochter Angela (Andrea Schober) unter der Aufsicht ihrer stummen Erzieherin Traunitz (Macha Méril) daheim bleibt. In Wirklichkeit treffen sie sich jedoch beide mit ihren heimlichen Geliebten, Gerhard mit Irene (Anna Karina) und Ariane mit Kolbe (Ulli Lommel), einem Mitarbeiter ihres Mannes. Als Gerhard mit Irene zum Familienschloss fährt, wo schon die Haushälterin Kast (Brigitte Mira) mit ihrem Sohn Gabriel (Volker Spengler) wartet, kommt es zu einem unangenehmen Zusammentreffen der beiden Paare. Zu einem Eklat kommt es jedoch nicht, denn nun, da alle Karten auf dem Tisch sind, beschließen sie, das Wochenende gemeinsam miteinander zu verbringen.

Das Eintreffen von Angela und Traunitz hingegen stört die Ruhe beträchtlich. Schnell wird klar, dass das Zusammentreffen auf dem Schloss von dem Mädchen arrangiert und von langer Hand geplant wurde. Schon längst weiß sie von den Affären ihrer Eltern und das Wochenende soll sie nicht nur mit der Untreue des Ehepartners konfrontieren, sondern Angela eine Möglichkeit zur Rache an ihren Eltern ermöglichen.

„Denn Ich ist ein anderes, …“

Als sich sein Spielfilm Whity als kommerzieller Misserfolg herausstellte, unternahm Regisseur und Drehbuchautor Rainer Werner Fassbinder mit Chinesisches Roulette einen zweiten Versuch, ein internationales Projekt zu realisieren. Gemeinsam mit Kameramann Michael Ballhaus besprach er das Projekt, das innerhalb nur weniger Wochen geplant, gedreht und geschnitten wurde, was sinnbildlich für das enorme Tempo stand, in dem Fassbinder seine zahlreichen künstlerischen Unternehmungen anging. Die Schnelligkeit, mit der Chinesisches Roulette gemacht wurde, sollte den Zuschauer jedoch nicht zu dem Urteil hinreißen, es handle sich um ein rasch produziertes und nicht sorgfältig inszeniertes Werk. Das teils sehr experimentell in Szene gesetzte Beziehungsdrama ist eine Fortsetzung der Themen, die Fassbinders gesamtes Werk begleiten, vor allem die Wunden einer Nachkriegsgesellschaft, die immer weiter machen will und dabei in alte, fatale Verhaltensmuster verfällt.

Zentral für den Film ist ein Zitat aus den Briefen des französischen Autors Arthur Rimbaud, in dem es um einen Prozess der schleichenden Selbstentfremdung geht. Diese Art des Selbstreflexion, die der Schriftsteller in seinen Briefen darstellt, ist bei den Figuren, die in Fassbinders Film auftreten noch weit entfernt, denn alle geben sich einer gewissen Form des Selbstbetrugs hin, was sie selbstsicher nach Außen transportieren. Selbst die Untreue in der Ehe wird ignoriert und wie eine amüsante Anekdote bei einer Party behandelt, was bei den jeweiligen Affären mit einer Mischung aus Scham und Befremden quittiert wird. Fassbinder inszeniert eine Form der Hölle, doch eine, die ohne Flammen und Feuer auskommt und viel näher an der Version in Jean-Paul Sartes Geschlossene Gesellschaft angelehnt ist. Das Spiel Chinesisches Roulette ist eine Variation des Dialogs in dem Bühnenstück, eine Aneinanderreihung von Sichtweisen zu einer Person, die schnell bemerkt, dass jenes Bild, was sorgsam über Jahre hinweg als Schutz diente, zu fallen droht. Fassbinder legt die Handlung auf dieses dramaturgisch sehr spannende Finale aus, wobei man vorher die Inszenierung der Erwachsenen sieht und zugleich die Wut über die Lüge des Immer-Weiter-Machens.

Ausweg aus dem Selbstbetrug

Bezeichnenderweise kommt die Wut von der jungen Generation. Die Gehbehinderung und das Verstummen kann man als Symptome einer zur Handlungsunfähigkeit verurteilten Generation ansehen. Es ist ein Verweis auf die Aggression und den angestauten Frust der Jungen, wie man ihn politisch sowie gesellschaftlich während der ganzen 1960er und 1970er Jahre zu spüren bekam. Margit Carstensen und Alexander Allerson spielen Figuren, die sich wohlfühlen im Selbstbetrug und die sich über die Untreue des Ehepartners wenig wundern. Die Pose ist zu einem Lebensstil geworden, weiter vorangetrieben durch Spiele, Sex und Alkohol, der in einer gläsernen Vitrine mitten im Raum steht. Andrea Schober spielt die Wütende, die aber nicht, wie man vielleicht vermuten würde, nur Zerstörung im Sinn hat, sondern eine vage Vision des Wiederaufbaus realisieren will. Das Niederreißen der Ordnung und des Betrugs kann eine Möglichkeit zur Wahrheit eröffnen, einen wirklichen Neubeginn, sodass Chinesisches Roulette am Ende auch Fassbinders hoffnungsvollster Film ist.

Credits

OT: „Chinesisches Roulette“
Land: Deutschland
Jahr: 1976
Regie: Rainer Werner Fassbinder
Drehbuch: Rainer Werner Fassbinder
Musik: Peer Raben
Kamera: Michael Ballhaus
Besetzung: Margit Carstensen, Andrea Schober, Alexander Allerson, Macha Méril, Ulli Lommel, Anna Karina, Brigitte Mira, Volker Spengler

Trailer

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Chinesisches Roulette
fazit
„Chinesisches Roulette“ ist ein Beziehungsdrama um Selbstlügen und deren Ende. Rainer Werner Fassbinder gelingt eine vor allem dramaturgisch und schauspielerisch fesselnder Film, der sich wie eine Parabel auf den Generationenkonflikt der Nachkriegsgenerationen liest und eine Möglichkeit aufzeigt, vielleicht der Spirale der Gewalt und der Lügen zu entkommen.
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