Eine Million Minuten erzählt basierend auf dem gleichnamigen Sachbuch die Geschichte von Vera (Karoline Herfurth) und Wolf Küper (Tom Schilling), einem Paar, das nach außen hin alles hat. Außer einer Sache: Zeit. Sie haben nicht genug Zeit für sich, nicht füreinander und auch nicht für ihre Tochter Nina (Pola Friedrichs), obwohl die aufgrund ihrer Entwicklungsverzögerung ganz besonders viel Zeit bräuchte. Also fassen sie den Beschluss, gemeinsam für zwei Jahre wegzugehen, zuerst nach Thailand, danach nach Island. Doch trotz des Tapetenwechsels, einige der Probleme bleiben, sind mit ihnen ins Ausland gereist. Wir haben Regisseur Christopher Doll anlässlich des Kinostarts am 1. Februar 2024 getroffen und mit ihm gesprochen. In unserem Interview über das Drama unterhalten wir uns über die Entwicklung des Stoffes, die schwierige Balance aus Familie und Beruf sowie die Herausforderungen bei seinem Regedebüt
Könnten Sie uns etwas über die Entstehungsgeschichte von „Eine Million Minuten“ verraten? Wie kam es zu dem Film?
Ich bekam vor rund sieben Jahren einen Anruf von dem Kameramann Andreas Berger, mit dem wir zuvor Traumfrauen und SMS für dich gemacht hatten. Er hatte gerade im Radio ein Interview mit Wolf Küper über sein Sachbuch gehört, fand das superspannend und fragte mich, ob ich nicht Lust hätte, mir das anzuschauen. Also habe ich es mir besorgt und fand es sehr liebenswert. Das Buch stellt die Frage, was wir mit unseren Minuten machen, weil wir alle nur einmal haben. Das ist ein Thema, das uns alle betrifft und viele überfordert. Danach habe ich mich mit Wolf getroffen und wir haben uns darüber ausgetauscht, was dir daraus machen könnten. Die Option, das Buch zu verfilmen, hatten wir ziemlich schnell. Vielleicht hätten wir es auch früher schon gedreht. Aber dann kam Covid und es war utopisch, einen Film zu drehen, bei dem wir viel reisen müssen. Das wäre einfach nicht gegangen. Am Ende war das aber gar nicht so verkehrt, weil wir dadurch länger an dem Stoff arbeiten konnten, ganz ohne Druck, was ihm glaube ich ganz gutgetan hat. Wir konnten die verschiedenen Beziehungen noch einmal vertiefen, sowohl die Paarbeziehung wie auch die zwischen Eltern und Kind. Dafür haben wir mit mehreren Autorinnen gearbeitet, um damit auch die Perspektive zu erweitern.
War Wolf Küper denn auch an der Umsetzung beteiligt?
Ich habe ihm jede Drehbuchfassung geschickt. Zwar ist der Film keine direkte Verfilmung von seinem Buch, sondern hat nur Anleihen. Dennoch ist es natürlich eine sehr persönliche Geschichte, weswegen es wichtig für mich war, mich mit ihm auszutauschen. Es war eine sehr schöne Zusammenarbeit. Und eine ganz besondere, weil Wolf Wissenschaftler ist und mit Filmen keine Berührungspunkte hatte. Da kam ein unfassbar präzises Drehbuchfeedback in Tabellenform. Das war toll, weil du gemerkt hast, dass da jemand auf alles achtet. Während des Drehs hatten wir nur noch manchmal Kontakt, zeitlich bedingt. In Thailand haben wir tatsächlich in dem Haus gedreht, in dem er damals gewohnt hat. Da habe ich ihm dann Fotos geschickt, was eine sehr nostalgische Geschichte war. Und auch beim Ende haben wir uns ausgetauscht, weil ich noch einen persönlichen Satz drin haben wollte und es mir wichtig war, dass er damit einverstanden ist.
Wo waren die Herausforderungen, aus dem Sachbuch einen Film zu machen? Sie haben ja schon gesagt, dass Sie sich nicht ganz an die Vorlage gehalten haben.
Die Sache mit dem Buch war, dass es mit dem Ausbruch aus Deutschland kein wirkliches Problem mehr gab. Wolf erzählt eine Vater-Tochter-Geschichte, in der es keinen Konflikt gibt. Für einen Film brauchst du das aber. Du brauchst ein Problem, das gelöst werden muss. Ich bin 76er Jahrgang und damit ungefähr so alt wie Wolf. Meine filmische Konditionierung fand daher in den 1980ern statt. Damals ging es für mich los mit dem amerikanischen Kino. Unser Thema wurde dann die männliche Sozialisation. Der Mann muss hart sein, macht die Arbeit, verpasst dabei aber ganz viele eigentlich lebenswerte Momente. Wir wollen uns am Ende unseres Lebens an unsere Beziehungen mit Familie und Freunden erinnern, nicht nur an die Arbeitsprojekte, die wir Jahr für Jahr abgearbeitet haben. Arbeit kann auch ganz toll sein. Aber man verpasst eben etwas, wenn man sich nur darauf konzentriert. Und dieses Gefühl des Verpassens ist eins, mit dem sich glaube ich viele Männer identifizieren können.
Aber auch Frauen. Der Film beginnt ja damit, dass die Ehefrau das Gefühl hat, nur noch für die Familie da zu sein und dadurch etwas in ihrem eigenen Leben verpasst.
Absolut. Es sind verschiedene Verpassensflächen, die man so hat. Eigentlich wäre es gut, wenn man sich innerhalb einer Beziehung mehr bewegen kann, was natürlich für den Arbeitsmarkt eine Herausforderung ist. Es geht natürlich nicht, dass jeder sagt: Ich mach mal ein Jahr Pause, dann arbeite ich wieder, mach dann wieder Pause usw. Für die Familie und einen selbst wäre das aber vermutlich keine schlechte Sache, wenn man flexibler sein könnte und dadurch eine bessere Balance hätte. Bei Wolf steckt das Thema schon drin, aber nicht ganz so konfliktreich.
Bislang waren Sie als Produzent tätig, Eine Million Minuten ist Ihr Regiedebüt. Wie kam es dazu, dass Sie hier die Regie übernommen haben?
Ich kann nicht mit der Geschichte ankommen, dass ich mit acht Jahren mit Super-8 im Hinterhof schon erste Filme gedreht habe. Das stimmt nicht. Ich freue mich für alle, die diese Erfahrung machen durften. Was ich aber gemacht habe, war, mir sehr viele Filme anzusehen. Ich bin ein Kind der 80er und damit der Video-Generation. Damals hat man noch ganz anders konsumiert. Beispiel Musik: Man saß da vor dem Radio während der Hitparade und hat dabei aufgenommen. Und ich habe Filme aus dem Fernsehen aufgenommen oder aus der Videothek ausgeliehen. Film hatte immer eine hohe Anziehungskraft auf mich. Das war für mich eine Möglichkeit, für zwei Stunden mal ganz woanders hinzugehen. Es war eine tolle Welt. Als ich dann selbst beim Film angefangen habe, war ich zuerst in der Aufnahmeleitung und dann viele Jahre in der Regieassistenz. Als Regieassistent bist du doch relativ eingebunden in den Drehprozess und hast eine gewisse Verantwortung für den Drehablauf. Erste Erfahrungen hatte ich also. Dennoch hatte ich immer das Gefühl, dass der produzentische Weg der richtige für mich ist, weil ich aus dieser Struktur komme und diese auch gern mag. Ursprünglich wollte ich Eine Million Minuten auch anderen Regisseuren oder Regisseurinnen überlassen, hatte erste Gespräche mit Leuten, bei denen ich das Gefühl hatte, sie wären die richtigen. Irgendwann habe ich aber gemerkt, dass ich mich schon so sehr mit dem Stoff angefreundet habe und so sehr drin war, dass ich es selber machen muss. Das war eine sehr lehrreiche Erfahrung, die mir glaube ich auch bei weiteren produzentischen Arbeiten noch einmal helfen wird.
Es gibt viele Beispiele dafür, dass Leute aus künstlerischen Bereichen irgendwann auch Produktion mitmachen, zum Beispiel die ganzen Schauspieler und Schauspielerinnen, die Produktionsfirmen gründen. Umgekehrt ist das seltener, also dass jemand aus der Produktion anfängt, selbst Regie zu führen. Was glauben Sie ist einfacher, vom künstlerischen zum produzentischen oder umgekehrt?
Gute Frage. Vermutlich ist das stark typabhängig. Sie könnten auch zehn Produzenten fragen, wie sie arbeiten, und bekommen zehn Antworten, die immer leicht verschieden sind. Es gibt sehr inhaltlich arbeitende Produzenten. Es gibt sehr finanziell arbeitende Produzenten. Andere arbeiten vielleicht eher strukturell oder sind im praktischen Prozess dabei. Im besten Fall verbindet man all diese Arbeiten, weil sie alle dazu gehören. Für mich war es ein Vorteil, weil ich durch meine Arbeit als Produzent so viele tolle Leute kennengelernt habe aus all diesen Bereichen. Die konnte ich dann alle anrufen und fragen, ob sie mitmachen wollen. Das hat es für mich leichter gemacht. Wenn Leute aus dem künstlerischen Bereich kommen, dann hat das oft glaube ich damit zu tun, dass sie auch nach dem Dreh noch Einfluss haben wollen auf den weiteren Prozess, was ja auch nachvollziehbar ist. Wenn du Schauspieler oder Schauspielerin bist, dann bist du mit dem Drehende durch. Dabei fängt das zum Teil dann erst richtig an, weil die Postproduktion so umfassend ist.
Sie haben gemeint, dass Sie sich mit dem Thema angefreundet haben. Die Frage nach der Vereinbarkeit von Beruf und Familie ist eine, die sich viele stellen, ebenso, wie wir unsere Lebenszeit sinnvoll nutzen können. Was haben Sie für sich selbst mitgenommen durch die Beschäftigung mit dem Thema?
Das haben Wolf und ich uns während des Prozesses tatsächlich selbst gefragt. Ich glaube, es gibt am Ende keine Lösung, weil wir immer wieder Minuten verpassen werden. Wir werden auch immer wieder Minuten verschwenden. Aber es kann schon total helfen, einen bewussteren Umgang zu entwickeln. Oft merkt man ja gar nicht, dass man etwas verpasst. Man ist im Alltag gefangen. Ein erster Schritt könnte sein, sich dessen bewusst zu werden. Denn das brauchst du, um eine Entscheidung zu treffen oder auch zu überprüfen, ob der Weg, den du gehst, wirklich der richtige für dich ist. Der Arbeitsanspruch, den es an uns gibt, an uns alle in der Gesellschaft, ist schon enorm hoch. Für mich wäre es schon ein Erfolg, diesen Anspruch in Gedanken hin und wieder zu relativieren.
In Eine Million Minuten wird Wolf mit seinem Vater kontrastiert, bei dem klar ist: Er hat nie über seine Position nachgedacht. Für ihn war klar, was er machen muss und was seine Frau machen muss. Das hat sich in der folgenden Generation geändert, mit einem gemischten Ergebnis. Auf der einen Seite bringt dieses Bewusstsein neue Möglichkeiten mit sich. Es führt aber auch dazu, dass das Paar erst einmal ziemlich unglücklich ist. Ist das dann wirklich ein Fortschritt?
Das ist ein wenig die Matrix-Frage: blaue Pille oder rote Pille? Möchte ich wirklich ein Bewusstsein darüber haben, was ich tue? Ich glaube, dass die Generation unserer Eltern erst später die Möglichkeit bekommen hat. Als Nachkriegskinder vom Zweiten Weltkrieg hatten sie lange ganz andere Probleme. Ich glaube, dass jede Generation einen Entwicklungsschritt macht und mehr sensibilisiert wird für ein Miteinander. Es dauert aber natürlich. Du beobachtest bei Großeltern auch oft, wie eng sie mit ihren Enkeln sind. Da kann es schon sein, dass es eine Art unbewusster Aufräumarbeit ist und sie etwas nachholen, was sie bei den eigenen Kindern verpasst haben.
Eine letzte Frage zum Abschluss: In dem Film geht die Familie für zwei Jahre weg, zuerst nach Thailand, dann nach Island. Wenn Sie sich zwei Länder aussuchen könnten, um dort jeweils ein Jahr zu leben, welche würden Sie nehmen?
Die Originalgeschichte macht ja Thailand, Australien, Neuseeland. Das wäre natürlich sehr reizvoll, Australien ist auch so ein Sehnsuchtsort. Ich würde aber wirklich Island auf den Zettel schreiben, das hat mich schon sehr beeindruckt. Das ist ein magischer Ort für mich. Du musst aber mit dir selbst klarkommen, sonst ist das alles zu kühl. Du bist aufgefordert, dich selbst aufzuräumen. Thailand ist dazu ein maximal toller Kontrast, weil dort alles „easy“ ist. Es ist warm. Es ist freundlich. Das hat schon einen großen Reiz. Die Antwort ist vielleicht etwas langweilig, aber ich würde diese beiden Länder noch einmal machen. Mehr Zeit in den Ländern verbringen zu dürfen, wo wir gedreht haben, das wäre schon ein Megageschenk.
Vielen Dank für das Gespräch!
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