Subject: Filmmaking Filmstunde 23
© Simon Haseneder / Thomas Mauch / if productions

Filmstunde_23

Subject: Filmmaking Filmstunde 23
„Filmstunde_23“ // Deutschland-Start: nicht angekündigt

Inhalt/Kritik

Filmstunde_23 eröffnet (nach Archivaufnahmen) mit der Texteinblendung eines Zitats von Béla Balázs: „Solange Film nicht an der Schule gelehrt wird, nehmen wir die wichtigste Revolution der menschlichen Bildung nicht zur Kenntnis.“ Die Dokumentation ordnet diese Aussage allerdings nicht ein, liefert zudem keine Quelle, gibt noch nicht einmal das Jahr preis, in dem sie getroffen wurde. Es kann vom Durchschnittszuschauer nicht erwartet werden, etwas damit anfangen zu können, doch selbst vorgebildete Rezipienten mögen sich hier schwer tun.

Balázs ist der Begründer der modernen Filmtheorie. 1924 legte er mit der Veröffentlichung des Buches Der sichtbare Mensch oder die Kultur des Films ihren Grundstein. Es ist heute vielleicht kein Standardwerk mehr, aber dennoch nicht überholt. Zweimal lieferte der gebürtige Ungar Nachschub: Der Geist des Films (1930) und Der Film. Werden und Wesen einer neuen Kunst (1949). Beide Bücher sind in gewissem Sinne Revisionen und reflektieren naturgemäß die Weiterentwicklung des Autors, bleiben dem Kern des ersten Werkes jedoch erstaunlich treu. Ohne Der sichtbare Mensch erneut gelesen zu haben, soll hier mit einiger Sicherheit bezweifelt werden, dass obiges Zitat daraus entnommen ist. Allerdings hat sich Balázs tatsächlich spätestens 1925 dafür eingesetzt, die Filmkunst als Teil des ästhetischen Unterrichts in der Schule zu lehren.

Filmanalyse vergebene Liebesmühe?

Film als festes Unterrichtsfach wird es nie geben, schon gar nicht in Deutschland. Den Verstand junger Menschen dafür zu schärfen, worauf es beim Film ankommt, ist sicher ein hehres Ziel. Das hat nur nichts im Lehrplan zu suchen. Zum einen, weil da ganz andere Sachen reingehören, zum anderen weil Filmtheorie ein Gebiet ist, das selbst Leute überfordert, die es besser wissen müssten. Während letzteres an sich ein gutes Argument dafür wäre, diesbezüglich eine Bildungsoffensive zu starten, ist Filmtheorie heutzutage schlicht beinahe obsolet geworden. Es hat kaum noch jemand die Zeit oder den Willen, sich damit auseinander zu setzen. Kritiken, die sich ja intensiver mit einem Film beschäftigen sollten, als es beim Durchschnittszuschauer der Fall ist, bleiben immer häufiger oberflächlich und teilweise aussagenlos. Immer mehr Leute produzieren einfach nur noch „Content“, statt das Gesehene zu reflektieren und für Leser aufzuarbeiten. Das liegt nicht zwingend an einem mangelnden Filmverständnis, obschon sich der Eindruck manchmal aufdrängen möchte, sondern zu einem immer größer werdenden Teil auch daran, dass sich seitens der Leserschaft mit den Filmkritiken wiederum nicht genügend auseinander gesetzt wird. Filmanalyse an sich scheint sowieso ein antiquiertes Relikt zu sein, das sich höchstens noch in staubigen Zimmer verquerer Akademiker finden lässt.

Heutzutage scheint es ja auch immer mehr Filmemacher zu geben, die nicht verstehen, wie ein Film gemacht wird. Es ist auch nicht unbedingt leicht, ihnen daraus einen Vorwurf zu machen. Die moderne Filmkritik schießt sich gefühlt immer mehr ins Aus. Immer stärker drängt sich der Eindruck auf, es wäre egal, wie handwerklich unzureichend ein Film ist, solange er nur die passenden Themen behandelt und ein paar Checkboxen abhakt. Das gilt vor allem für fiktionale Werke, betrifft aber auch Dokumentationen wie Diese Sendung ist kein Spiel – Die unheimliche Welt des Eduard Zimmermann. Wer den Kritikenteil einer Zeitung aufschlägt, wird dann auch manchmal einfach nur von oben herab politisch belehrt, statt tatsächlich etwas über den vorgeblich besprochenen Film zu erfahren. Auch bei Festivals, insbesondere den größeren, scheint der Vorzug mehr und mehr Einreichungen gegeben zu werden, die sich anderen Zielen verschrieben haben, als filmisch wertvoll zu sein. Da kann es dem Nachwuchs nur bedingt angelastet werden, das Handwerk nicht richtig zu erlernen.

Filmunterricht als Experiment

Der Musikunterricht in der Schule besteht oft hauptsächlich aus Musikgeschichte. Wer Glück mit dem ihm zugeteilten Lehrer hat, wird sicher auch etwas zur Musiktheorie lernen oder sich mit der Interpretation von Stücken beschäftigen können, aber grob verallgemeinert gesprochen bleibt so etwas doch die Ausnahme. Es ist schwer vorstellbar, dass Film als Unterrichtsfach einheitlich geregelt wäre. Im Mai und Juni 1968 jedenfalls leitete der Regisseur Edgar Reitz einen 16 Schulstunden umfassenden Projektunterricht an einem Münchener Mädchengymnasium. Initiiert wurde dieser von der Klassenlehrerin. Als Der Schimmelreiter von Theodor Storm auf dem Programm stand, kamen bei einigen Schülerinnen (von insgesamt sechsundzwanzig an der Zahl, im Alter von 13 bis 14 Jahren) Fragen zur 1934 gedrehten Verfilmung (die beiden anderen entstanden erst später, 1978 beziehungsweise 1984) auf, welche sie im Fernsehen gesehen hatten. Daraus entspann sich ein Gespräch darüber, inwieweit es möglich sei, eine literarische Vorlage in eine filmische Fassung zu übertragen. Da sich dabei viele Fragen aufdrängten, die weder von der Lehrerin noch von den Schülerinnen beantwortet werden konnten, leistete Frau Magdalena Böttcher Pionierarbeit und startete „zum ersten Mal seit es Film gibt“ das Experiment, „Film in einem normalen Gymnasium zu unterrichten.“ Dazu wurde eben Reitz eingeladen.

Angesichts der Tatsache, dass auch 56 Jahre später die überwältigende Mehrheit immer noch nicht davon ablassen kann, eine filmische Adaption mit dem Original zu vergleichen, ist es verlockend, das Experiment als gescheitert anzusehen. Andererseits ließe sich natürlich einwenden, dass es gerade hätte aufzeigen sollen, wie notwendig es ist, den Menschen eine vernünftige Filmbildung an die Hand zu geben. Reitz beginnt den Lernprozess der jungen Damen jedenfalls damit, ihnen jeweils einen Gegenstand auszuhändigen. Diesen sollen sie innerhalb von fünf Minuten so präzise wie möglich beschreiben. Das kann jeder gerne einmal für sich selbst probieren, er wird wahrscheinlich dieselbe Erkenntnis gewinnen, wie jene Schulklasse im Jahre 1968: Objekte lassen sich fantastisch mit Worten beschreiben, solange es um Eigenschaften geht, die mit dem bloßen Auge nicht zu erfassen sind. Ob ein Bonbon rund ist, lässt sich mit einem Text ähnlich gut kommunizieren, wie ein Foto davon zu zeigen. Ob es süß ist, wird auf einem Bild jedoch nicht zu erkennen sein.

Ein Bild sagt mehr als viele Worte

Auf der anderen Seite ist die Kamera der klare Gewinner, wenn es um die Vermittlung der bloßen Optik geht. Komplexer aufgebaute Gegenstände wie etwa ein Schuh verlangen mehrere Zeilen, wenn nicht Absätze, um halbwegs adäquat dieselben Informationen vermitteln zu können, die ein Bild auf den ersten Blick präsentiert. Das ist sicher etwas, was durch ein rein intellektuelles Durchexerzieren verstanden werden kann, aber wer ein besseres Verständnis für Filme entwickeln möchte, ist gut damit beraten, sich hinzusetzen und so eine Beschreibungsübung tatsächlich auszuführen. Wer das Ganze einmal wirklich verinnerlicht hat, wird wohl kaum den Drang verspüren, eine filmische Adaption mit der literarischen Vorlage vergleichen zu wollen. Es ist dann ein wenig so, als würde der Apfelsaft schlecht bewertet werden, weil er im Gegensatz zum Apfel nicht bissfest sei. Wie die beiden Darreichungsformen lassen sich die beiden Medien nicht miteinander vergleichen, da sie unterschiedliche Verwendungszwecke beziehungsweise Möglichkeiten haben.

Der Vollständigkeit halber sei erwähnt, dass tatsächliche komparative Analysen fraglos ihre Berechtigung haben. Um in der Analogie zu bleiben, könnten diese dann zum Beispiel herausarbeiten, dass die Bissfestigkeit des Apfels im Gegensatz zum Saft für einen kräftigeren Kiefer sorgt, während der Saft süßer schmeckt und nicht zwischen den Zähnen stecken bleibt. Auf so einer Ebene operiert die „Das Buch war besser“-Mentalität aber natürlich nicht.

Learning by doing

Filmtheorie ist schön und gut. Sie ist für den ambitionierten Filmemacher aber wertlos, wenn nichts davon in die Tat umgesetzt wird. Ähnlich wie bei der oben erwähnten Beschreibungsübung, aber in deutlich stärkerem Maße, ist die praktische Erfahrung durch nichts zu ersetzen. Reitz hält sich nicht damit auf, einfach Informationen über Kamerabewegungen herunterzurattern. Stattdessen verteilt er funktionierende Super-8-Kameras, mit denen die Mädchen filmen können. Nachdem zwei davon sich daran probieren, fragt er die Klasse, wo die Unterschiede in der Kameraführung gewesen seien. Auf diese Weise entwickelt sich ein Gespräch beinahe auf Augenhöhe über die verschiedenen Arten der Kamerabewegung, statt dass Reitz von der Kanzel herab eine dröge Vorlesung hält. Als jemand, der erst deutlich später im Leben und nur mithilfe von Eigenrecherche ein Verständnis für Filme entwickelt hat, ist es faszinierend zu beobachten, mit wie viel Scharfsinn die jungen Damen bei der Sache sind. Es zeigt sich in den Aufnahmen aber auch, was für ein exzellenter Lehrer Reitz ist.

Filmstunde_23 ist mit einer Art Zopfdramaturgie aufgebaut, dokumentiert zwei Zeitebenen. Zum einen wurde Reitz seinerzeit von einem Kamerateam des Bayerischen Rundfunks begleitet, das den Unterricht festhielt. Zum anderen gab es 2023 ein Klassentreffen mit den damaligen Schülerinnen, an dem auch Reitz teilnahm, und welches ebenfalls gefilmt wurde. In der Dokumentation werden diese Aufnahmen nun miteinander verflochten. Allerdings ist Filmstunde_23 noch etwas komplexer aufgezogen. Manchmal laufen etwa Bilder von 1968 mit dem Ton von 2023, außerdem kommen manche der erwachsenen Frauen in kleinen Solointerviews zu Wort; darüber hinaus werden von den Schülerinnen damals gedrehte Filme gezeigt. Aber hier kann eben leider nicht auf alles eingegangen werden.

Was vom Filmen übrigblieb

Die Vorstellung, wie viel besser der deutsche Film sein könnte, wenn das Verständnis fürs Filmemachen bereits in der Jugend geschult werden würde, ist sicher eine verlockende. Die Eitelkeit des Mannes etwa von Ulrike Krause ist wie die meisten anderen Beiträge im Kontext betrachtet ein großartiger Kurzfilm, wenn er von der damaligen Schülerin wirklich völlig alleine konzipiert, umgesetzt und fertiggestellt wurde. Doch kann sie nicht als Argument dafür herangezogen werden, Film als Unterrichtsfach einzuführen. Der deutsche Film ist kaputtgefördert, es besteht kein Interesse an Qualität, stattdessen wird lediglich ein gewisser Status Quo erhalten. Es ist sicher ein Problem, dass immer weniger Menschen zu wissen scheinen, wie man einen Film macht, auf der anderen Seite ist das System ja aber auch gar nicht mehr auf gute Filmemacher ausgelegt. Unabhängig davon ist das Filmemachen ein Nischenjob. Egal wie sehr der Rezensent und offensichtlich auch Edgar Reitz das Thema für wichtig halten und sich hingebungsvoll damit beschäftigen, es ist nicht gerechtfertigt, es den anderen Schulfächern gleichzustellen.

Einer der 26 von den Mädchen produzierten Kurzfilme zeigt Jungs beim Fußballspielen. Unter ihnen der Bruder der Regisseurin. Beim Klassentreffen kommentieren die Damen ihre jeweiligen Produktionen; diese hier erzählt, dass dem Bub damals ein großes Talent beschienen wurde. Die Frage, ob er bei der sportlichen Tätigkeit geblieben sei, verneint sie. Er wurde Physiker. Filmstunde_23 versäumt es, der gleichen Frage im Bezug auf die Schülerinnen nachzugehen. Wieso ist keine von ihnen bei der Filmerei geblieben? Was diese Mädchen innerhalb von gerade einmal vier Wochen gelernt haben, ist angesichts dessen, wie filmisch ungebildet manche Drittsemester der renommierten Filmhochschulen heutzutage wirken, nahezu wahnsinnig. Es ist aber nicht nur das erworbene Wissen, vielmehr ist ihnen in den alten Aufnahmen wie auch in den neuen deutlich die Leidenschaft für das Thema anzumerken. Generell weckt die Doku den Wunsch nach mehr Material, gerade die gefilmten Schulstunden sind ein wertvoller Schatz, aber vor allem das Klassentreffen kommt viel zu kurz. Ob jetzt jeder 16 Stunden und mehr schauen möchte ist wieder eine andere Frage, aber eine Laufzeit von 84 Minuten schöpft den Rahmen einer vertretbaren Dokumentationslänge bei Weitem nicht aus.

Für Filmliebende Pflichtprogramm

In Filmstunde_23 wird (in den Aufnahmen von 1968) argumentiert, dass „die meisten Erwachsenen […] in ihrem Leben nicht so viele Bücher lesen wie sie Filme und Fernsehen sehen“ und „in Bezug auf diese Sprache Film eine Art Analphabetentum“ herrsche. Das ist sicher nicht von der Hand zu weisen, dabei wird jedoch ignoriert, dass Bewegtbilder für den Durchschnittszuschauer ein reines Konsumgut sind. Daran ist nichts Verwerfliches. Filmtheorie kann sicher faszinierend sein, hat für die breite Masse aber schlicht keine Relevanz. Sie weckt ja selbst bei immer mehr Leuten, die von ihrer Kenntnis profitieren würden, kein Interesse mehr. Gegen Ende werden Mitschnitte eines Elternabends gezeigt, bei dem alle noch einmal über das Experiment reflektieren. Dabei kommen weitere guten Gegenargumente zur Sprache, allerdings wird vor allem noch einmal deutlich, wie sehr alle direkt und indirekt Beteiligten davon profitiert haben. Statt auf einem Pflichtfach zu beharren, hätte von Anfang das Verankern einer Film AG angestrebt werden sollen.

Es ist hier nun vieles unerwähnt geblieben, und auch was aufgegriffen wurde, ist teilweise verkürzt behandelt worden. Filmstunde_23 bietet genügend Gesprächsstoff, um ein ganzes Heftlein mit der Besprechung der Dokumentation zu füllen. So wie sich für Edgar Reitz der Kreis mit dem erneuten Klassentreffen geschlossen hat, so müssen wir auch hier wieder darauf zurückkommen, dass sich in einem Film oft mehr sagen lässt als mit Worten auszudrücken ist. Jedem Filmemacher, jedem Filmkritiker und jedem, der Filme nicht nur konsumieren, sondern sehen möchte – ob aus privatem Interesse, oder um selbst einmal zu einem Macher oder Kritiker zu werden –, kann diese Doku nur dringlichst empfohlen werden.

Credits

OT: „Filmstunde_23“
IT: „Subject: Filmmaking“
Land: Deutschland
Jahr: 2024
Regie: Jörg Adolph, Edgar Reitz
Drehbuch: Jörg Adolph, Edgar Reitz
Kamera: Matthias Reitz-Zausinger, Markus Schindler, Daniel Schönauer, Thomas Mauch, Dedo Weigert

Bilder

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Filmstunde_23
Fazit
In "Filmstunde_23" reminisziert eine ehemalige Mädchenklasse gemeinsam mit einem Regisseur darüber, wie er ihnen vor 55 Jahren die Filmästhetik näherbrachte. Die Dokumentation verwendet sowohl Archivmaterial von 1968, als der Unterricht filmisch begleitet wurde, als auch Aufnahmen der Zusammenkunft, kommentiert diese aber nicht noch einmal gesondert. Wer Filme über den reinen Konsum hinaus liebt, wird aus dieser Begegnung und vor allem dem damaligen Experiment sehr viel mitnehmen können.
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