„Gold macht blind“. So lautet das Negativurteil des Schweizer Goldschmieds und Kunstprofessors Otto Künzli über das edelste der Metalle. Der plakative Spruch aus dem Jahr 1980 bedeutete eine Zeitenwende für Künstlerinnen und Künstler, die Schmuck gestalten. Nicht auf das blendende Material kommt es ihnen mehr an, sondern auf die Idee, die hinter dem Kunstwerk steckt. Helen Britton, eine der bedeutendsten zeitgenössischen Schmuckkünstlerinnen, beherzigt das Credo Künzlis, bei dem sie Anfang der Nullerjahre in München studierte, mit großer Konsequenz. Ihre Schmuckstücke entstehen aus Gefundenem, Ausschusswaren und billigen Metallen. In ihren Arbeiten widmet sie sich der Volkskultur und den verschwindenden Handwerkskünsten, etwa der Edelsteinschleiferei und Glasbläserei, aber auch den aktuellen Umweltkrisen und menschlichen Ängsten. Nach langem Zögern hat sie der deutsch-spanischen Dokumentarfilmerin Elena Alvarez Lutz erlaubt, ihr bei der Arbeit über die Schulter zu schauen und sie auf ihren Reisen zu begleiten. Im Dialog mit der Filmkunst entstand so eine poetische Reflexion über die Schönheit des angeblich Wertlosen.
Vielfalt der Details
Eine Halskette von Helen Britton ist nichts zum Angeben. Sie enthüllt ihre Aura erst auf den zweiten Blick, wenn man zum Beispiel auf die vielen kleinen metallenen Glieder achtet, die einander umspielen und durch die Leichtigkeit des Materials bestechen, das mit kräftigen Autolack-Farben besprüht ist. Die Vielfalt der Details und der Strukturen ist es, die die Faszination der Komposition und der Verliebtheit in das gefundene Material ausmachen. Vor allem durch ihren Schmuck wurde die 1966 geborene Australierin, die seit vielen Jahren in München lebt, berühmt. Aber ihre künstlerische Auseinandersetzung mit der Welt ist multidiziplinär. Ihre Arbeiten umfassen ebenso Fotografien, Skulpturen, Zeichnungen und Installationen. Was das Besondere daran ist – das lässt sich in Hunter from Elsewhere – Eine Reise mit Helen Britton auf eine ebenso intime wie unaufdringliche Weise entdecken. Elena Alvarez Lutz dreht kein klassisches Künstlerinnenporträt, das die Heldin auf ein Podest stellt. Sie taucht vielmehr tief ein in einen Schaffensprozess und ermöglicht dem Publikum, die kreativen Impulse bei ihrer Entstehung mitzuempfinden.
Wie bei vielen gelungenen Dokus über Künstlerinnen und Künstler ist es der lebendige Austausch zwischen den Kreativen, der das tiefere Verständnis ermöglicht, nicht die Indienstnahme des Films für eine andere Form des Schönen. Alvarez Lutz‘ Dokumentation präsentiert einen Dialog, und zwar schon auf der fundamentalen Ebene. Denn die Filmemacherin hat einen Off-Kommentar verfasst, in dem sie von sich spricht: Wie sie Helen Britton kennengelernt hat und was sie an deren Kunst begeistert. Diese Ich-Stimme begibt sich in ein spannungsreiches Gespräch mit der Selbstauskunft der Künstlerin, beide umkreisen nicht-linear und doch eingängig die Biografie, die Interessen, Motive und Arbeitsweise der Künstlerin.
Darüber hinaus finden sich zentrale Übereinstimmungen in der Arbeitsweise. Helen Britton findet die konkrete Form eines Kunstwerks erst während des Spiels mit dem Material, und auch der Film entstand erst im Schneideraum, ohne einen genauen Plan dessen, wie er einmal auszusehen hatte. Das sind gute Voraussetzungen für eine gemeinsame Reise, die zuerst in Brittons Heimat Australien führt, ans Meer und in die Stadt Newcastle, einst ein Zentrum der Schwerindustrie, und dann nach Deutschland zurückkehrt zu den Steinschleifern von Idar-Oberstein und den Glasbläsern im thüringischen Lauscha, beides vom Aussterben bedrohte Handwerkstraditionen.
Eher Sammlerin als Jägerin
Als „Jägerin“ adressiert der Filmtitel die Künstlerin, weil sie immer auf der Suche ist nach neuen Orten und nach deren Geschichte, weil sie Erinnerungen und Traditionen bewahren möchte, indem sie sie in ihre eigene Auseinandersetzung mit Alltagsmaterialien integriert. Aber noch genauer könnte man Helen Britton als Sammlerin bezeichnen: als unendlich geduldige und demütige Besucherin, die sich vorurteilsfrei umschaut, vieles in sich aufsaugt und dann auf sich wirken lässt, bis dann – manchmal erst nach Jahren – eine Idee entsteht, wie sich das Erlebte in einen künstlerischen Prozess transformieren lässt. Genau dieses Gefühl des Sammelns verströmt auch der Film. Er nimmt sein Publikum hierhin mit und dorthin, lässt es verweilen, schauen und eigene Erfahrungen machen, die sich vielleicht erst später zu einem Bild zusammensetzen. Oder eben Fragmente bleiben, in der ihnen eigenen Schönheit.
Zu Beginn zitiert der Film eine aufschlussreiche Überlegung des griechischen Philosophen Demokrit über das Sehen. Demnach bedeutet Sehen, Bilder in unserer Seele zu sammeln, sozusagen Erinnerungen an die Objekte. Für Helen Britton verstecken sich solche Bilder unter anderem in den alten Handwerkskünsten sowie ganzen Kulturen und ihrer Art, die Welt zu sehen. Sie warten darauf, von uns erneut angeschaut zu werden, um in aktuellen Zusammenhängen lebendig zu werden. Das geschieht einerseits in den künstlerischen Objekten, jetzt aber auch im Film von Elena Alvarez Lutz, der dem Publikum denselben Prozess einer Wertschätzung von angeblich Wertlosem vor Augen führt. Damit setzt er indirekt und angenehm unaufdringlich einen Gegenpol zur grassierenden Wegwerfkultur.
OT: „Hunter from Elsewhere – A Journey with Helen Britton“
Land: Deutschland
Jahr: 2021
Regie: Elena Alvarez Lutz
Drehbuch: Elena Alvarez Lutz
Musik: The Notwist, Driftmachine, Mount Hush, Sasebo, Niko Schabel, Sound Voyage, Exlex
Kamera: Elena Alvarez Lutz, Lilli-Rose Pongratz, Stefan Brainbauer, Robin Worms
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