1999 zieht der US-Amerikaner Jake Adelstein (Ansel Elgort) nach Tokio. Nach erfolgreichem Studium in seiner Heimat Missouri und der Sophia Universität hat er nur ein Ziel vor Augen: der erste nicht-japanische Reporter bei der angesehenen Yomiuri Shimbun Zeitung zu werden. Er besteht die Prüfung und er wird neben vielen anderen neuen Kollegen dem Ressort Kriminalität zugeordnet, wo er, basierend auf den Stellungnahmen der Polizei, Berichte über Verbrechen in der japanischen Hauptstadt schreiben soll. Seinen Status als „Gaijin“ lassen ihn seine Vorgesetzten an jeder Stelle spüren, denn seine ersten Arbeiten werden entweder abgelehnt oder gar nicht erst gedruckt. Auch seine direkte Vorgesetzte Emi Maruyama (Rinko Kikuchi) ist alles andere als angetan von dem neuen Kollegen, der sich mehr für die Motive und die Hintergründe einer Tat interessiert. Als Sohn eines Gerichtsmediziners gibt Adelstein jedoch so schnell nicht auf und unternimmt daher eigene Recherchen in der japanischen Unterwelt, besonders nachdem er mitansehen musste, wie ein Mann auf offener Straßen grausam Selbstmord beging und sich niemand für die wahren Gründe hinter der Tat interessiert.
Seine Nachforschungen führen ihn in den Onyx Club, einen beliebten Nachtclub der Yakuza, der japanischen Mafia. Dort erhofft er sich ein paar Einblicke zu erhalten und verwickelt Hostess Samantha (Rachel Keller) wiederholt in Gespräche über ihre Arbeit. Die hat jedoch eigene Pläne, um in Tokio zu überleben und will sich nicht mit dem Reporter einlassen. Schließlich gelingt es ihm, Kontakt zu Detective Katagiri (Ken Watanabe), einem Ermittler der Mordkommission, aufzunehmen, der so etwas wie ein Mentor für Jack wird. Die Verbindung der beiden bleibt jedoch nicht geheim, denn die Yakuza haben schon längst gehört von dem „Gaijin“, der ihnen nun allzu neugierig wird.
Kleiner Fisch, großer Teich
Tokyo Vice basiert auf dem Sachbuch Tokyo Vice: An American Reporter on the Police Beat in Japan des Reporters Joshua Lawrence „Jack“ Adelstein. Er berichtet von seiner Arbeit für die Zeitung Yomiuri Shimbun und seine Einblicke in die japanische Unterwelt, vor allem die Yakuza und deren Machenschaften, was ihn mehr als einmal in gefährliche Situationen brachte. Ursprünglich als Spielfilm mit Daniel Radcliffe in der Rolle des Jack Adelstein geplant, wurde aus der Geschichte letztlich eine Serie, die mit Regisseur Michael Mann (Miami Vice, Heat, Collateral) als Produzenten einen Filmemacher gewinnen konnte, der erfahren ist im Genre des Cop-Thrillers. Tokyo Vice feierte seine Premiere auf dem Streamingdienst HBO Max und war dort so erfolgreich, dass die Serie für eine weitere Staffel verlängert wurde.
Auch wenn Japan mittlerweile neben Korea zu den Trendländern der Jugend gehört, ist es dennoch eine Kultur, die fremd für den westlichen Zuschauer ist. Diese Fremdheitserfahrung ist zentral in vielen Filmen, beispielsweise in Ridley Scotts Black Rain, der bewusst mit westlichen wie auch asiatischen Stereotypen spielt. Einen ähnlichen Ansatz verfolgen auch die acht Folgen der ersten Staffel von Tokyo Vice, die immer wieder mit Vorurteilen spielen, die Japaner gegenüber Westlern wie Jack haben, aber auch Amerikaner gegenüber Asiaten hegen. Der von Ansel Elgort (Baby Driver) gespielte Protagonist sticht überall heraus, wegen seiner Hautfarbe, seiner Körpergröße und wegen seiner Manieren, die nicht immer den japanischen Standards entsprechen. Er ist der „Gaijin“, der als Störenfried empfunden wird und dessen bloße Anwesenheit von vielen als ein Affront gesehen wird, beispielsweise, wenn er bei seiner ersten Pressekonferenz fast verhaftet wird, weil man ihn als Spion ansieht. Sein Judentum ist ein weiteres Stigma, auf das wiederholt angespielt wird und das ihn zu einem doppelten Außenseiter in einer konformistischen Gesellschaft wie der japanischen macht. Dieser „kleine Fisch“, der sich nicht verstecken kann, weil er immer auffällt, ist der Bezugspunkt für den Zuschauer, weil er Sachverhalte anders wahrnimmt und sich nicht mit einfachen Erklärungen oder den offiziellen Versionen zufrieden gibt.
Es ist kompliziert.
Jedoch sind die unterschiedlichen Kulturen und Sichtweisen nur ein Aspekt von Tokyo Vice. Der zweite behandelt das Zentrum der Reportagen des Reporters, nämlich die japanische Unterwelt, die nach ganz eigenen Regeln verfährt und in die japanische Gesellschaft eingebrannt ist wie die Mafia in Teilen Italiens oder die Triaden in China. Hier zeigt sich die erzählerische Cleverness der Serie, die nicht nur die Perspektive Adelsteins zeigt, sondern auch die eines Insiders (der von Sho Kasamatsu gespielte Jin), einer Frau, die versucht sich ein neues Leben in Tokio aufzubauen sowie eines Polizisten, der über lange Jahre gelernt hat, wie man sich mit dem Verbrechen arrangiert. Insbesondere der aus Gannibal bekannte Kasamatsu überzeugt neben erfahrenen Darstellern wie Ken Watanabe als jemand, der, wie Adelstein, ein Außenseiter ist oder sich selbst zu einem macht. Desillusioniert von der restriktiven Hierarchie der Yakuza und deren Antiquiertheit vermischen sich Selbstekel und Aggression in vielen seiner Szenen, beispielsweise, wenn er einen seiner Untergebenen brutal maßregelt oder versucht seine Gefühle gegenüber Samantha geheimzuhalten.
Neben der schauspielerischen und erzählerischen Komponente überzeugt Tokyo Vice auch ästhetisch. Natürlich sind gerade die Szenen bei Nacht sehr eindrucksvoll geraten, doch ebenso die Momente in der Zeitungsredaktion oder den Büros der Yakuza, welche einen Eindruck von jenen Hierarchien und Regeln vermitteln, nach denen hier gelebt und gearbeitet wird. Als interessantes Detail muss man die Inszenierung der Zeremonien der Yakuza erwähnen, bei der die Kamera stets den Blickwinkel eines Beobachters einnimmt, dem ein eigentlich verbotener Blick hinter die Kulissen genehmigt wird, so wie es bei dem Protagonisten in Tokyo Vice der Fall ist.
OT: „Tokyo Vice“
Land: USA, Japan
Jahr: 2022
Regie: Michael Mann, Josef Kubota Wladyka, Hikari, Alan Poul
Drehbuch: J. T. Rogers, Karl Taro Greenfeld, Arthur Phillips, Naomi Iizuka, Adam Stein, Jessica Brickman, Brad Caleb Kane
Musik: Danny Bensi, Saunder Jurriaans
Kamera: Daniel Satinoff, Diego Garcia, Katsumi Yanagijima, Corey Walter, John Grillo
Besetzung: Ansel Elgort, Ken Watanabe, Rachel Keller, Hideaki Ito, Show Kasamatsu, Ella Rumpf, Rinko Kikuchi, Tomohisa Yamashita, Miki Maya, Yosuke Kubozuka
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