Aïcha (Salha Nasraoui) lebt mit ihrem Mann Brahim (Mohamed Hassine Grayaa) auf einer kleinen Farm im Norden Tunesiens. Insgesamt haben sie drei Söhne, von denen die beiden ältesten, Mehdi (Malek Mechergui) und Amine (Chaker Merchergui), als Soldaten in den Krieg in Syrien ziehen. Bei ihren Eltern und der Dorfgemeinschaft löst dies gemischte Gefühle aus, sind sich alle doch mehr als sicher, dass die beiden Brüder sich dem IS angeschlossen haben und von diesem indoktriniert wurden. Die Ungewissheit über ihr Schicksal lässt Aïcha keine Ruhe, sodass sie auf verschiedene Weise versucht, sich Klarheit zu verschaffen. In ihren Träumen sind ihr immer wieder Dinge erschienen, die sich ereignen werden oder die für die Zukunft eine Bedeutung haben, weswegen sie von ihren Nachbarinnen als eine Art Seherin betrachtet wird. Je länger ihre beiden Brüder jedoch weg sind, desto mehr wächst in ihr die Gewissheit, dass sie tot sind, was die Stimmung zuhause natürlich bedrückend macht.
Eines Tages steht Mehdi im Haus seiner Eltern, zusammen mit der verschleierten Reem (Dea Liane). Er eröffnet seinen Eltern, er habe sie geheiratet und erwarte ein Kind mit ihr, was sie beide fernab vom Krieg aufziehen wollen. Sein Schweigen und seine ausweichenden Antworten, was mit ihm und Amine in Syrien passiert sei, erzürnen Brahim, der zunehmend misstrauisch wird. Aïcha hingegen ignoriert all dies und freut sich über den baldigen Zuwachs in ihrer Familie, selbst als sich die Verdachtsmomente gegen ihren Sohn verdichten.
Mütter und ihre Söhne
Who Do I Belong To ist das Spielfilmdebüt der in Tunesien geborenen Regisseurin, Produzentin und Drehbuchautorin Meryam Joobeur. Das Familiendrama, das auf den Filmfestspielen in Berlin 2024 im Wettbewerb vertreten ist und zudem seine Weltpremiere dort feiert, folgt erzählerisch dem Konzept des magischen Realismus, wie man ihn beispielsweise von Autoren wie Gabriel Garcia Marquez kennt. Die Inspiration für die Figuren und die Geschichte kam, wie Joobeur und Interviews erklärt, von einem persönlichen Verlust, den sie mittels Hypnose und der Auseinandersetzung mit ihren Träumen versuchte zu verarbeiten und damit den Heilungsprozess begann.
Obwohl Who Do I Belong To auf sehr konkrete Ereignisse und Gruppierungen wie den IS anspielt, geht es Joobeur um ein sehr universelles Thema. In der Auseinandersetzung, woher die Menschen kommen, die den IS ausmachen, fragte sie sich mehr und mehr, was Personen dazu antreibt Terror zu verbreiten. Teils seien es Menschen, die keinerlei Verbindung zu Gewalt und Terror haben, und nun unaussprechliche Dinge tun, wie die Regisseurin im Interview erläutert. Auch die Figuren in Who Do I Belong To kommen zu keinen Antworten auf diese Fragen oder haben es überhaupt aufgegeben, das Thema anzuschneiden, aus Angst vor der Reaktion anderer und wegen des reinen Selbstschutzes. Dieser Umgang hat zu einer Kluft zwischen den Eheleuten sowie der Familie und der Gemeinde geführt, was Joobeur in teils langen Einstellungen und nicht zuletzt der Stille zeigt, welche die steigende Anspannung anzeigt. Gefühle werden nicht offen angesprochen, sodass die Mutter einen Ausweg in den Träumen sucht, um sich über Zusammenhänge klar zu werden und einen Weg zu finden, der sie auf einen Kollisionskurs zu ihrem Mann und der Gemeinde führt.
Die Angst vor den Antworten
In der zweiten Hälfte von Who Do I Belong To nehmen dann die spirituellen Elemente viel mehr Raum ein als zuvor. Visuell ist das sehr interessant, vor allem, da viele der Szenen und Bilder psychologisch und thematisch sehr tiefgehend angelegt sind und die Beziehung zwischen Aïcha und dem Rest der Familie, insbesondere zu Mehdi, genauer betrachten. Indem das Familiendrama mehr oder weniger abgelöst wird, lässt man aber auch einige der vorher angesprochenen Aspekte im Vagen verharren, beispielsweise die Beziehung Mehdis zu Brahim, die insgesamt erzählerisch unterentwickelt scheint. Das ist gerade deswegen schade, weil das Ensemble in Who Do I Belong To wirklich Erstaunliches leistet, nicht zuletzt Salha Naraoui als eine Frau, die das Schweigen in ihrer Familie nicht mehr ertragen kann und nach Antworten auf Fragen sucht, welche andere nicht stellen wollen.
OT: „Mé el Aïn“
Land: Tunesien, Frankreich, Kanada
Jahr: 2024
Regie: Meryam Joobeur
Drehbuch: Meryam Joobeur
Musik: Peter Venne
Kamera: Vincent Gonneville
Besetzung: Salha Naraoui, Mohamed Hassine Grayaa, Malek Mechergui, Adam Bessa, Dea Liane, Rayen Merchergui, Chaker Merchergui
Bei diesen Links handelt es sich um sogenannte Affiliate-Links. Bei einem Kauf über diesen Link erhalten wir eine Provision, ohne dass für euch Mehrkosten entstehen. Auf diese Weise könnt ihr unsere Seite unterstützen.
(Anzeige)