In vielen Teilen der Welt werden aktuell Sandsäcke malträtiert, Pratzen in eine andere Dimension gekickt und hunderte von Kilometern gerannt. Der Tod eines geliebten Menschen ist für niemanden leicht hinzunehmen. Die wenigsten Fans können wohl sagen, eine innige Bekanntschaft mit einer berühmten Persönlichkeit gepflegt zu haben, doch wenn so jemand aus dem Leben scheidet, fehlt trotzdem plötzlich etwas. Heutzutage ist das alles sowieso etwas anders. Dank den sozialen Medien sind solche Leute sehr nahbar geworden, haben viel von dem mysteriösen Flair verloren, der sie umgab. Wer in den 1990ern aufwuchs, der wusste wenig über die Menschen hinter der Kunst. Informationen kamen aus unbekannten Quellen und wurden oft unreflektiert auf dem Schulhof geteilt und hingenommen.
Akira Toriyama war stets ein sehr zurückgezogener Mann. Trotzdem hatte er immensen Einfluss. Das von ihm geschaffene Manga Dragon Ball hat Millionen von Leuten dazu inspiriert, selbst sportlich aktiv zu werden. Sei es nun direkt im Kampfsport oder eben in anderen Disziplinen. Einige davon schafften es sogar über den Amateurstatus hinaus. Roxanne Modafferi beispielsweise, die trotz einer auf dem Papier unspektakulären Kampfbilanz von 25-21 hoffentlich eines Tages in die Hall of Fame der UFC aufgenommen wird, und deren größter Sieg wohl jener gegen die bis dahin ungeschlagene Maycee Barber ist, hat sich beim zeremoniellen Einwiegen in ihrer Karriere unter anderem im Cosplay als Majin Vegeta oder SSJ Blue Goku präsentiert. Jeder trauert anders, aber nicht wenige dieser Millionen von Leuten werden auf genau diese Aktivität zurückgegriffen haben, nachdem sie die Nachricht erhalten hatten, dass Toriyama am 1. März 2024 gestorben ist.
Teil der Popkultur
Dragon Ball ist aus der Popkultur nicht wegzudenken. Das wäre selbst dann der Fall, wenn das Franchise nach den originalen 42 Bänden ein Ende gefunden hätte. Das Manga inspirierte viele Menschen nämlich auch dazu, selbst mit dem Zeichnen anzufangen. Wie auch beim Sport sind daraus einige Profis hervorgegangen. Toriyamas Zeichenstil war wegweisend. Lange Zeit war es der meistverkaufte Manga, auch heute noch rangiert Dragon Ball auf dem zweiten Platz hinter One Piece, von welchem mehr als doppelt so viele Exemplare verkauft wurden, welches aber auch deutlich mehr als doppelt so viele Bände hat. Jeder hat anders zu Dragon Ball gefunden.
Eines Tages, ich war vielleicht 12 Jahre alt, spazierte ich wie es damals mehrmals wöchentlich vorkam durch die Kinder- und Jugendbibliothek. Zwischen zwei Regalen stand ein unscheinbarer Bücherwagen, der von jemandem vergessen worden zu sein schien. Er war ungünstig geparkt worden – wenn er wie es sich gehört vernünftig am Regal abgestellt worden wäre, wäre ich einfach daran vorbeigegangen. So aber sah ich ihn mir genauer an.
Nicht nur der Wagen selbst war unordentlich platziert, auch die sich im unteren Teil befindlichen Druckerzeugnisse sahen lieblos hingeworfen aus. Sie hatten ein ungewöhnliches Format und waren größtenteils schwarz, die Einbände glänzten ein bisschen. „Das ist doch sicher wieder irgend so ein blöder Scheiß“ oder etwas ähnlich Abwertendes ging mir durch den Kopf, als ich in die Knie ging, um den Haufen zu durchwühlen. Ich konnte damit nichts anfangen und wendete mich innerlich bereits zum Gehen, als mir das Cover eines bestimmten Bandes ins Auge fiel. Ein komisches grünes Wesen war von den Schultern an aufwärts zu sehen, zweigeteilt. Die linke Gesichtshälfte war glatt und jung, die rechts alt und runzelig. „PICCOLOS GEHEIMNIS“ prangte darüber. So ein Titel evoziert zunächst zwei Fragen: Wer ist Piccolo? Was ist sein Geheimnis? Vor allem aber, und das ist die wichtigste Frage: Warum sollte es mich interessieren?
Wer die dreizehn vorherigen Bände gelesen hat, dem stellt sich natürlich nur die zweite Frage. Mir aber war das Ganze eher suspekt. Allerdings ging eine magische Anziehungskraft von diesem kleinen „Büchlein“ aus, das ich in den Händen hielt, die ich mir nicht erklären konnte. Direkt hinter mir befand sich eine große treppenstufenartige Sitzecke, zu der ich mich gleich hinbegab.
Ich schlug das mittlerweile als Comic identifizierte Werk auf – an der richtigen Stelle. Ich verstand zwar nicht, warum mit den normalen Konventionen gebrochen wurde, hatte aber keinerlei Probleme damit, die hier geltenden direkt vom Format ableiten zu können. Am Ende war ich sehr überrascht, als auf der letzten Seite eine Art Anleitung stand. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass jemand den Manga von der falschen Seite her aufschlagen würde.
Soweit war ich in der Bibliothek allerdings noch nicht. Ich erinnere mich nicht daran, wie viele Seiten ich dort gelesen habe – weiter als bis zur Hälfte kam ich sicher nicht, sehr wahrscheinlich habe ich aber schon deutlich früher abgebrochen. Nicht, weil mir das Gelesene nicht gefallen hätte, ganz im Gegenteil. Auch wenn mir das komplette Vorwissen der ersten dreizehn Bände fehlte (oder fast das komplette – es gab nach dem Inhaltsverzeichnis eine kurze Zusammenfassung der bisherigen Ereignisse), zogen mich die ersten Seiten sofort in ihren Bann. Da war ein kleiner Junge mit einer komischen Frisur und einer Art Affenschwanz am Hintern, der gegen einen seltsamen Riesen mit spitzen Ohren und Antennen auf dem Kopf kämpfte.
Als der Junge schwer getroffen wird, schrie ein drei-äugiger Mann „Son-Goku!“, den Namen des Jungen also, wie ich schon durch die Bilder neben der Zusammenfassung nach dem Inhaltsverzeichnis wusste. Der Inhalt war für mich beim Aufschlagen aber noch zweitrangig. Vielmehr faszinierte mich das dritte Bild: Während das Gesicht des komischen Riesen nahe zu sehen war, gab es im Hintergrund so eigenartige schlangenartige Wellen. So etwas war mir in einem Comic bis dahin noch nie begegnet, aber auch ohne verbalisieren zu können, warum das so war, wurde mir klar, dass dieser Charakter in diesem Moment noch stärker wurde als er ohnehin schon war.
Die nächsten Bildern hatten auch eine mir bis dato völlig unbekannte Dynamik. Mit einem größeren Wortschatz und mehr Wissen kann ich heute natürlich von Speedlines reden und ihren Effekt erklären, aber damals bewunderte ich einfach nur diese Zeichnungen.
So sehr mich das alles faszinierte und so sehr ich weiterlesen wollte, zwang ich mich dennoch dazu, aufzuhören. Zwar war mir der Inhalt zunächst nicht ganz so wichtig, aber wenn die Bilder schon so fantastisch waren, wollte ich auch das ganze Werk verschlingen, und zwar von Anfang an. Wie viele Bände es insgesamt gab, wusste ich nicht, aber der Bücherwagen hortete ja jede Menge davon. Die ersten dreizehn würden sicher auch dabei sein. So ging ich also die paar Schritte, um mich einzudecken – und musste mit Entsetzen feststellen, dass kein einziges Exemplar mehr dort war. Das konnte ich überhaupt nicht begreifen. Die Lektüre muss mich so gefesselt haben, dass ich nicht mitbekam, wie der nur wenige Meter von mir entfernte Wagen geleert wurde. Zur Sicherheit lieh ich den Band, den ich noch in Händen hielt, aus, um daheim weiterzulesen.
Wie sinnvoll es ist, mit Band 14 einzusteigen, sei dahingestellt. Für mich war es aber der perfekte Einstieg. Während ich Band 41, Super Gotenks, für den besten halte (und mir gerade erst auffällt, dass das eine gespiegelte 14 ist), wird Piccolos Geheimnis immer einen besonderen Platz in meinem Herzen einnehmen. Nach und nach las ich in den nächsten Wochen die restlichen Bände – in chronologischer Reihenfolge. Band 14 übersprang ich dabei allerdings. Ich habe einige wenige Bände dreimal gelesen, die meisten aber zwei- oder sogar nur einmal. Ich will jetzt nicht so tun, als wüsste ich heute immer noch so viel darüber wie damals, aber für mehrere Jahre wusste ich so gut wie alles aus den Mangas. Es geht dabei natürlich nicht um Details wie „Was ist das achte Wort auf Seite 15 in Band 23?“ oder ähnlichen Quatsch. Aber alles was mit der Handlung, den Charakteren und so weiter zu tun hat, war scheinbar unwiderruflich in mein Gehirn eingebrannt.
Meine Klassenkameraden ermutigten mich irgendwann sogar dazu, mich mit diesen Voraussetzungen bei Wetten, dass..? zu bewerben, nachdem sie erfolglos versucht hatten, Wissenslücken bei mir zu entdecken. Ich konnte ihnen die obskursten Details nennen, weiß auch heute noch sehr viel, etwa welchen Titel das Buch hat, aus dem Mr. Satan Boo ‚vorliest‘. Mir wurde mehrfach attestiert, dass ich mehr über Dragon Ball wüsste als Toriyama selbst – damals ohne Internet hatten wir natürlich keine Ahnung, dass Toriyama ein sehr vergesslicher Mensch ist und ihm vieles von der früheren Handlung beim Weiterschreiben gar nicht mehr bewusst war.
Band 39, Boo, habe ich ebenfalls nur einmal gelesen. Es ist der Band, von dem ich auch damals schon am wenigsten wusste. Ich konnte seiner nur einmal habhaft werden, in der Bibliothek war er ansonsten scheinbar dauerhaft vergriffen. Ähnlich verhielt es sich mit Band 40, Die Fusion, welcher ebenfalls exzellent ist. Band 41 ist der einzige, den ich mir kaufte. Damals gab es eine Webseite, die ein Dragon Ball-Quiz zu Verfügung stellte. Ich erreichte im Beisein einiger Klassenkameraden am Schulcomputer 89 von 90 möglichen Punkten. Dass es nicht 90 wurden, lag an einem merkwürdigen Fehler im Quiz: Bei der Frage, wie viele Sterne der Dragon Ball hätte, den Son-Goku von seinem Großvater bekam, wurde meine richtige Antwort (4) als falsch gewertet. Aus irgendeinem Grund sah das Quiz 5 als richtige Antwort vor.
Die unendliche Geschichte
Toriyama ist nun tot. Mit Dragon Ball hat er aber etwas Unsterbliches geschaffen. Toriyama selbst wollte Dragon Ball mehrmals beenden. Ähnlich wie Futurama ist es aber nicht totzukriegen. Nach dem Kampf mit Freezer auf Planet Namek war die Sache eigentlich für ihn durch. Doch da die Fans mehr wollten, gab es mit SSJ2 Son-Gohan ein erneutes Ende. Da das immer noch nicht genug war, warf er den Fans eben einen pinken Dämonen vor die Füße und schuf letztlich das perfekte Ende. Dennoch geht es immer weiter. Von den Serien habe ich nur Dragon Ball GT und Dragon Ball Super komplett gesehen. Die eigentlichen Serien Dragon Ball und Dragon Ball Z haben vielen Kindern die Nachmittage gerettet, ich selbst kenne davon aber nur die ikonischsten Momente und einzelne Episoden. Ich wuchs ohne Kabelfernsehen auf. Was ein Anime war, wusste ich nicht so genau. Die erste Frage eines Klassenkameraden zu Dragon Ball, die ich nicht beantworten konnte, war wen Son-Goku auf dem Schlangenpfad trifft. Er trifft dort nämlich niemanden – im Manga. Im Anime war das anders. Die Mangas kannte er wiederum nicht.
2009 erschien der Realfilm Dragonball: Evolution. Schon während meiner Schulzeit gab es immer wieder Gerüchte über eine Realverfilmung. Von The Magic Begins hatte damals noch keiner von uns etwas gehört, es lässt sich auch darüber streiten, inwieweit es sich dabei wirklich um eine Adaption des Mangas handelt. Ich habe diesem Film entgegengefiebert wie vielleicht noch nie etwas sonst in meinem Leben. Als ich ihn schließlich anschauen konnte, lief es folgendermaßen ab: Nach 8 Sekunden dachte ich, dass er scheiße wird. Nach 20 Sekunden wusste ich, dass er scheiße wird. Nach 32 Sekunden schaltete ich den Tränen nahe aus Für mich brach eine Welt zusammen. Heute kann ich das alles nüchterner betrachten, ich habe mittlerweile Ahnung von Filmen und weiß was eine Adaption ist, aber damals ertrug ich es noch Monate später nicht einmal, wenn jemand den Film auch nur erwähnte. Eine gute Sache hatte der Film immerhin: Toriyama war so sehr von ihm angewidert, dass er sein Franchise aktiv wiederbelebte und uns Dragon Ball Super gab. Dragon Ball war weder Toriyamas erster noch sein einziger Manga. Dr. Slump, Neko Majin und Sand Land sind ebenfalls absolut lesenswert.
Ikonische Charaktere
Toriyama ist tot, aber uns bleibt sein Werk. Die kommende Serie Dragon Ball Daima wird nun mit Schmerz rezipiert werden. Wer weiß, inwieweit das Marketing seinen Tod ausschlachtet. Toriyama hat uns viele ikonische Charaktere und vor allem natürlich Transformationen gegeben. Die ganzen verschiedenen Formen eines Saiyajins tragen alle seine Signatur. Jeder mag seinen persönlichen Favoriten haben, aber Son-Goku ist der beste Manga-Charakter aller Zeiten. Natürlich wissen wir nicht, wie viel Toriyama noch persönlich absegnen konnte. Bei allem, was von nun an veröffentlicht wird, wird sich die Frage aufdrängen, ob das so in seinem Sinne war.
Toriyama ist tot, das lässt sich nicht ändern. Doch egal, ob wir seinetwegen unsere Fäuste in einen Sandsack rammen, die Mangas lesen, die Serien schauen, die Spiele spielen oder in sonst einer Art und Weise versuchen, mit diesem Fakt umzugehen – die vielen Leben, die er mit seinen Werken bereichert hat, legen Zeugnis davon ab, was für ein großartiger Künstler er war. Er geht als einer der größten Mangakas in die Geschichte ein, für mich als der größte. „Bewegung, Lernen, Spaß, Essen und Ruhe sind die Grundpfeiler meiner Lehre“, lässt Muten-Roshi Son-Goku und Kuririn wissen. Wer sein Leben danach ausrichtet, macht sicher nichts falsch.
Das hier war sicher nicht mein kohärentester Text, ich konnte aber hoffentlich aufzeigen, welch immense Rolle Dragon Ball in meinem Leben spielt – und damit bin ich sicher nicht alleine. Jeder hat anders zu Dragon Ball gefunden, aber niemand, der damit in seiner Kindheit in Berührung kam und sich darin verlor und wiederfand, wird von der Nachricht, die viele von uns heute nach dem Aufwachen erhielten, unberührt geblieben sein. Für mich ist das ein absolutes 10/10 Manga, von Band 1 bis Band 42, von Kapitel 1 bis Kapitel 519, von Seite 1 bis wie viel auch immer. Jeder trauert anders. Wer zehn Stunden mit Vegeta im Regen stehen möchte, findet hier vielleicht etwas Komfort:
Danke, Toriyama-san.
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