Die junge Polin Agnieszka (Sylwia Gola) und der Afrikaner Dieudonné (Yann Mbiene) begegnen sich erstmals in einem Reisebus nach Lübeck. Agnieszka liest das Buch „Gott segne dich, Afrika“ von Papst Johannes Paul II, Dieudonné studiert „Schwarze Haut, weiße Masken“ vom Freiheitsphilosophen und Kolonialismusgegner Frantz Fanon. Damit sind die entscheidenden Impulse des Films umrissen, die sozialrevolutionäre Haltung und das Motiv der christlichen Nächstenliebe. Schließlich bedeutet „Amitié“ auf Deutsch Freundschaft. Der französische Begriff ist zugleich der Name eines KI-gestützten sozialen Netzwerks. Migranten und andere Arbeitssklaven schreiben hier Berichte, aus denen die KI lernt und auf Smartphones ihre Dienstleistungen anbietet: die besten Routen, Adressen und Helfer vor Ort, aber auch wundersam effizientes Sprachtraining und kinderleichtes Überweisen von Geld in die Heimat. Agnieszka und Dieudonné profitieren von diesem Netzwerk, werden Mitglieder und geben der menschenfreundlichen KI etwas zurück, indem sie Menschen in Not ein Versteck beschaffen.
KI als Mittel der Revolution
„Alle reden von künstlicher Intelligenz. Wir auch.“ So könnte man die Intention des Filmemacher-Kollektivs „Die Amitié“ umschreiben. Aber nur, wenn man hinzufügt, dass KI hier einmal keinen kommerziellen, sondern gesellschaftsverändernden Zwecken dient. Und wenn man nicht verschweigt, dass neben KI noch viele andere Themen diesen ganz eigenen Genremix bestimmen: Migration, Arbeitssklaverei sowie die Probleme überalterter Gesellschaften. Vor allem aber geht es um einen ebenso ernst gemeinten wie utopisch angehauchten Lösungsvorschlag für sämtliche angerissenen Konflikte in einer rauen Mischung aus Sozialsatire, Dokumentation und Zukunftshoffnung. Die Rede ist von einem freundlichen Miteinander auf Augenhöhe.
Anders als Ausbeutung kann man die Tätigkeiten von Agnieszka Dieudonné und in der reichen Hansestadt Lübeck nicht bezeichnen. Die junge Polin ist zur Pflege des demenzkranken Siegfried (Walter Hess) gekommen, rund um die Uhr, ganz auf sich gestellt, während Siegfrieds Sohn Carsten (Christoph Bach) als Professor für ästhetische Theorie zu seinen Lehrveranstaltungen nach Stuttgart pendelt. Dieudonné arbeitet zusammen mit dem Amitié-Aktivisten Osman (Aziz Çapkurt) in einem gigantischen Gewächshaus für Bio-Tomaten. Und zwar für 40 Euro am Tag, denn Chefin Sylvie (Anna Stieblich) bricht einfach das Versprechen von 60 Euro, mit dem Dieudonné aus Italien nach Deutschland gelockt wurde.
Neben ihrer Funktion als Ausbeuter haben die deutschen Darsteller Bach und Stieblich ihren Figuren aber auch nachdenkliche und ambivalente Züge mitgegeben. Sie sind auf die billige Arbeit der Migranten angewiesen und wissen das auch. In guten Momenten sind sie dankbar dafür, denn ohne die Einwanderer würde ihre Existenz zusammenbrechen. Und so ist der Film kein übliches Sozialdrama, das Missstände lediglich anprangert. Er zeigt zugleich einen Ausweg: Die „Amitié“, also das freundliche Miteinander auf Augenhöhe, würde auch das Leben der beiden Deutschen bereichern. Und vor allem ihr schlechtes Gewissen beruhigen. Denn sicher nicht von ungefähr haben die Filmemacher keine typischen Fieslinge mit Anzug und Zigarre ins Drehbuch geschrieben. Sondern Menschen guten Willens, die selbst Opfer der aktuellen Lebens- und Arbeitsverhältnisse sind und mit denen sich ein typisches Arthouse-Publikum durchaus identifizieren kann.
Regie als bürgerliches Konzept
Der gesellschaftskritische Aspekt betrifft auch das Filmemachen selbst. Regie gilt den Machern als bürgerliches Konzept. Daher findet man in Ankündigungen und Presseheft unter dieser Rubrik sowie unter „Drehbuch“ jeweils nur das „Filmkollektiv Amitié“. Das umfasst neben den genannten Schauspielern und der Filmcrew auch die Produzentin Ute Holl, Professorin für Medienwissenschaft an der Uni Basel, sowie Peter Ott, der nach eigenen Angaben die erste Drehbuchfassung geschrieben hat und im letzten Filmdrittel als skurriler „Kontaktbeamter“ für schwarzen Humor und chaotische Verwicklungen sorgt. Auch Didi Danquart gehört interessanter Weise als Tonassistent und Kleindarsteller zum Team. Der Filmemacher und Hochschullehrer hatte 1978 zusammen mit seinem Zwillingsbruder Pepe das damalige Filmkollektiv „Medienwerkstatt Freiburg“ mitbegründet, eine der ersten alternativen audiovisuellen Produktionsgemeinschaften in Deutschland.
Zwar begreift man die zentrale Botschaft des rohen, manchmal amateurhaften, aber immer charmanten Gemeinschaftswerks spätestens nach einer halben bis dreiviertel Stunde: Dass die deutsche Gesellschaft dringend auf die Arbeitskraft von Migranten angewiesen ist und dass sie schon aus Eigeninteresse gut daran täte, diese freundlicher zu behandeln. Aber diese Message allein kann den Film nicht tragen, das hat das Kollektiv wohl selbst gemerkt. Deshalb verändert es gegen Ende hin noch einmal den Ton, baut Surreales und Groteskes ein, steigert Tempo und Gagdichte. Allerdings nicht ohne ein zentrales Stilmittel beizubehalten: Immer wieder blicken die Schauspieler eindringlich in die Kamera und damit in die Augen jedes einzelnen Betrachters. Als wollten sie sagen: Beschwert Euch nicht über das Unfertige und Sperrige in diesem Film, sondern nehmt seine Offenheit zum Anlass, die angesprochenen Motive weiter zu denken und miteinander zu besprechen. Das wäre wohl ganz im Sinne der sozialen Utopie, für die der Film mit viel Herzblut wirbt.
OT: „Die Amitié“
Land: Deutschland
Jahr: 2023
Regie: Kollektiv Amitié
Drehbuch: Kollektiv Amitié
Musik: Ted Gaier
Kamera: Jörg Gruber
Besetzung: Sylwia Gola, Yann Mbiene, Walter Hess, Aziz Capkurt, Christoph Bach, Anna Stieblich, Ivona Nowacka
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